Enkelin schreibt Buch über bewegendes Kriegsschicksal ihrer Großeltern aus Warburg

Daseburg/Hamburg. Elisabeth Müller starb 1942 durch einen Bombentreffer auf das städtische Krankenhaus in Kassel, in dem sie Patientin war. In einem Brief mit dem Betreff &bdquo;Tod der Ehefrau“ warf ihr Ehemann Heinrich Müller seinem Arbeitgeber, der Reichsbahndirektion Kassel, später eine Mitschuld vor. &bdquo;Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus war dies ein sehr kühnes Vorgehen“, sagt Enkelin Renate Müller-Martens und erzählt in ihrem Buch von den Wirren und Verwerfungen zweier Weltkriege und der Zeit dazwischen. Sie kombiniert die Geschichte der Daseburger Familie mit den historischen Hintergründen. &bdquo;Eine durch viele Quellen belegte Schilderung von Alltagserfahrungen in einer Zeit, die von außergewöhnlichen Krisen geprägt war“, heißt es in einer Rezension. Und die lehrreich für das Heute sein möchte. Die Hamburger Kulturwissenschaftlerin erzählt die Biografie ihrer Vorfahren jetzt in einem Buch. &bdquo;Es beschreibt das Leben meiner Großeltern Heinrich und Elisabeth Müller, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Daseburg geboren wurden“, nennt sie den Inhalt, der es in sich hat. Die 452 Seiten dokumentieren zudem ein Leben im katholischen Milieu der kleinen Ortschaft in der Warburger Börde und in der katholischen Diaspora Kassels in den Jahren 1910 bis 1945. Das Buch veröffentlichte Renate Müller-Martens im Selbstverlag. Die Autorin schildere Alltagserfahrungen aus einer Zeit, &bdquo;die von außergewöhnlichen Krisen geprägt war“, heißt es in einer Rezension im Blog der Kommission Alltagskulturforschung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Ein Familienleben in und zwischen zwei Weltkriegen. &bdquo;Normalbürger“, sagt die Hamburger Autorin und weitet den Kreis &bdquo;Normalbürger“, sagt die Autorin. Doch habe die Generation ihrer Großeltern &bdquo;Grenzsituationen erlebt, über viele Jahre hinweg“. In den Jahren sei so viel passiert, &bdquo;das sollten wir Nachgeborenen zur Kenntnis nehmen“. Auch damit sich Geschichte nicht wiederholt. Die Generation der um 1890 Geborenen habe ein Leben im Ausnahmezustand geführt, sagt Müller-Martens. Sie möchte nachweisen, wie sich damals etwas aufgebaut habe, das in Diktatur und Krieg endete. Wie sich der Alltag der kleinen Leute veränderte. &bdquo;Diese Generation hat ein extremes Leben gehabt. Je mehr Menschen davon wissen, desto besser sind historische Entwicklungen durchschaubar“, sagt sie. Und geben Beispiele für das Heute, merkt die 69-jährige Hamburgerin aktuell politisch unsichere Zeiten an. Auch interessant: Vom stolzen Adelssitz bis zum Archiv der Warburger Stadthistorie Heinrich und Elisabeth Müller werden 1890 und 1892 in Daseburg geboren, wachsen im beschaulichen Dorf, das in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts rund 1.300 Einwohnerinnen und Einwohner zählte, auf. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sie schnell zueinandergefunden. In Kassel war Heinrich 1919 als technischer Büroassistent, später als Beamter der Deutschen Reichsbahn beschäftigt. &bdquo;Von Daseburg aus versorgte die Bauerntochter Elisabeth, die im Ort alle nur Lisbeth nannten, ihre Brüder, die im Schützengraben lagen, mit Lebensmitteln“, sagt Müller-Martens. Vor dem Hintergrund der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg habe das Ehepaar eine Wochenendbeziehung in Daseburg und in Kassel geführt. Seit Mai 1920 lebte das junge Paar dann in der nordhessischen Großstadt zusammen. Nach und nach relativiert sich das Bild von den Warburger Großeltern Von einem Nachbarn, der zusammen mit ihrem Vater im später neu gebauten Doppelhaus in Kassel aufwuchs, wird Großvater Heinrich als korrekt und pflichtbewusst beschrieben. Ihre Großmutter sei dem Nachbarn dagegen als &bdquo;eher zurückhaltend“ in Erinnerung geblieben, sagt Müller-Martens. &bdquo;Mein Vater hat mir nur wenig von den Großeltern erzählt.“ Aus dem wenigen, das sie hört, entnimmt sie gern, dass ihr Großvater in der Nazizeit ein Querdenker gewesen sein müsse. Stadtmuseum Warburg: Die Kriegsjahre drücken auf die Seelen Doch relativiert sich das Bild vom unangepassten Bürger im Zuge ihrer Recherchen. &bdquo;Er war weniger rebellisch als gedacht“, hält die Autorin im Vorwort ihres Buches fest. &bdquo;Und seine Frau, meine Großmutter, hat wohl manchen Streit unter den Kindern geschlichtet. Sie selber aber scheute kein Wortgefecht, wenn es um ihren Standpunkt ging.“ Die Hamburger Enkelin erbt den umfangreichen Nachlass Die Enkelin liest in den Briefen, die sich über die Zeitläufte erhielten. Liebevolle Zeilen, die sich Heinrich und Lisbeth schrieben. In den mehr als einhundert Briefen der Großeltern dokumentiert sich ein Familienleben, das ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts festhält. Anschaulich schildert Müller-Martens die persönliche Geschichte des Paares und seiner Söhne Heinz und Kurt. In der Familie werden neben den familiären politische und wirtschaftliche Ereignisse diskutiert, intensiv beschäftigen sich die beiden mit Glaubensfragen. Zwischen Widerstand und Kapitulation: Warburgs letzte Kriegsstunden Den Nachlass haben Müller-Martens und ihre Schwester geerbt, als der Vater 2007 starb. Ein halber Kleiderschrank voller Briefe, Schriftverkehr, Dokumente, amtliche Schreiben, Fotos. &bdquo;Großvater Heinrich war als leidenschaftlicher Fotograf mit zwei Plattenkameras unterwegs“, sagt die Enkelin. Eine lange Recherche: Ende 2009 beginnt sie in Daseburg, Warburg und Kassel auf den Spuren der Großeltern Interviews zu führen, blickt in Chroniken und alte Zeitungen. Bis 2015, sagt sie. Neben der Recherche beginnt sie mit dem Schreiben. 2020 ist das Werk fertig. Vergeblich sucht sie nach einem Verlag. &bdquo;In den Corona-Jahren haben viele gedacht, ihre Familiengeschichte aufschreiben zu müssen“, gibt sie Stimmen aus den Verlagsbüros wieder. Der Markt überschwemmt, publiziert sie im Selbstverlag. Das Schreiben sei einfach eine Sache, die ihr liege, sagt sie. Das Daseburger Paar kämpft wie so viele um das Überleben in schwieriger Zeit Inhaltlich berichtet Müller-Martens von den unterschiedlichen Erfahrungen, die ihre Großeltern zum einen auf dem Land, zum anderen in der Stadt machten, um das Überleben im Krieg, in der Weimarer Republik, in der Nazizeit zu sichern. Heinrich war einer der ersten Soldaten, die 1914 auf den Marsch durch Belgien geschickt wurden. Er kam als Kriegsverletzter zurück, sollte dennoch wieder an die Front. Elisabeth scheitert daheim im Saatguthandel. Die Menschen hungern, Lebensmittel sind rationiert. Starke Differenzen ergeben sich aus ihrem katholischen Glauben. Beide sind gottesgläubig, doch ist Heinrich im Glauben eher ein Freigeist, Lisbeth kirchentreu und ländlich fromm. &bdquo;Da krachen Welten aufeinander“, sagt die Enkelin nach der Durchsicht einer mehrjährigen Korrespondenz, die sich über das Thema entwickelte. Heinrich berichtet auch von den Übergriffen auf jüdische Mitmenschen. Lesen Sie auch: Jüdin aus Frankfurt in Daseburg beerdigt Von der später fünfköpfigen Familie überlebten nur zwei Mitglieder den Zweiten Weltkrieg: &bdquo;Mein Vater, Kurt Müller, und sein um elf Jahre jüngerer Bruder Erik“. Das Doppelhaus in der Nähe des Bahnhofs Wilhelmshöhe überstand die Angriffe der Alliierten und auch die Schrecken des Infernos im Oktober 1943, in der die Fliegerbomben in der Nacht fast die gesamte Innenstadt zerstörten und mehr als 10.000 Menschen töteten. Das umfangreiche Familienarchiv blieb erhalten. &bdquo;Basis und Anlass der folgenden Familiengeschichte“, führt Müller-Martens in ihr Buch ein. Auch interessant: Mythen und Geschichten rund um den Desenberg und: Ausbau für 340.000 Euro: Desenberghalle in Warburger Ortsteil soll Dorftreff werden Später zeigt ihr die Mutter die Taschenuhr mit dem dunklen Fleck Heinrich wurde kurz vor Kriegsende bei Guxhagen von einer Kugel, abgeschossen aus einem Tiefflieger, tödlich getroffen. Seine Verwandten transportierten den Leichnam in einer Holzkiste nach Daseburg. Die Umstände seiner Beerdigung, drei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner in Daseburg, seien makaber gewesen, merkt die Enkelin an. Im Buch erinnert sie sich, wie ihr die Mutter, die 1948 in die Familie kam, die Taschenuhr des Großvaters mit dem dunklen Blutfleck auf der Rückseite zeigt. &bdquo;Ein schauriges Relikt“, sagt Müller Martens.

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