Babyboomer verlassen den Arbeitsmarkt: Große Lücke droht

Frau Schwietert, Personalmangel ist in fast jeder Branche zu spüren. Auf den ersten Blick fragt man sich: Wieso gibt es auf der einen Seite zahlreiche freie Stellen und auf der anderen immer noch reichlich Arbeitslose? Frauke Schwietert: Das muss man differenziert betrachten. Das ist ja erst mal eine rein quantitative Betrachtung. Wichtig ist, sich die gesamte Struktur anzuschauen: Was steht sich da gegenüber? Man schaut: Welches Anforderungsprofil haben die Menschen, die sich bei uns arbeitslos melden? Und welches Profil haben die freien Stellen, die gemeldet werden? Wir kategorisieren das in vier verschiedene Anforderungsprofile. Einmal in den Bereich Helfer, das sind die An- und Ungelernten, dann in den Bereich Fachkraft, das ist der Klassiker duale Ausbildung, dann gibt es Experten (Studium, Meister, Techniker) und die Spezialisten, das ist der akademische Grad plus X. Hier genau liegt das Dilemma. Was heißt das? Quantitativ ist es so: Wir haben für den Kreis Minden-Lübbecke im August 9.000 Menschen, die arbeitslos sind, und wir haben 5.600 freie Stellen, die uns gemeldet werden. Nun muss man genau in die Struktur schauen, das heißt, nach den Anforderungsprofilen gucken. Und da ist das Verhältnis in der Struktur schon ein ganz anderes. Fast zwei Drittel der Arbeitslosen suchen eine Stelle auf Helfer-Niveau. Weil eben auch über 62 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Auf der anderen Seite suchen die Betriebe wirklich händeringend Fachkräfte, sodass sich zwischen diesen zwei Zahlen, über 5.100 arbeitslose Helfer und dagegen 1.800 Helfer-Stellen, eine Diskrepanz ergibt. Es kommen immer drei Helfer auf eine Stelle. Rein rechnerisch gibt es somit für über 3.300 Helfer keine Arbeitsstellen. 62 Prozent haben keine abgeschlossene Berufsausbildung Und auf der anderen Seite? Da ist es genau umgekehrt: Als Arbeitslose haben wir etwas über 2.000 gemeldet, die Fachkraft-Niveau mitbringen. Das sind 23 Prozent, und auf der anderen Seite habe ich über 3.000 Stellen, bei denen händeringend Fachkräfte gesucht werden. Würde heißen: 0,7 Fachkräfte für eine Stelle. Es zeigt, dass es ein Ungleichgewicht gibt. Und zu diesem nur quantitativen Ungleichverhältnis kommen dann noch andere wichtige Faktoren. Welche beruflichen Erfahrungen bringen die arbeitslosen Menschen mit? In welchen Bereichen? Wie sind die Arbeitszeiten? Und was ist mit Mobilität? Und ganz am Schluss steht natürlich die Frage der Persönlichkeit: Kommt man mit dem Betrieb zusammen? Dann wurden manche Berufsgruppen ja besonders durch die Corona-Pandemie und die Lockdowns geplagt, wie etwa das Gastgewerbe. Wohin sind die Arbeitskräfte abgewandert? Die Arbeitskräfte haben sich durch das Schließen der Gastronomie andere Erwerbstätigkeiten suchen müssen. Und da liegt es nahe, dass man erst einmal sagt: Wo wird gesucht und wo ist es sicherer? Das Sicherheitsbedürfnis nimmt in Krisenzeiten ja immer zu. Top 1 ist hier der Einzelhandel, dabei alle möglichen Bereiche, die Küchenbranche, der Fahrradhandel und natürlich auch Lebensmittel. Es gab ja Zeiten in der Pandemie, da hatten nur die Supermärkte geöffnet. Weitere Bereiche, in denen die Menschen Arbeit gefunden haben, sind Gebäudebetreuung, Garten- und Landschaftsbau, Großhandel, Sozialwesen, Gesundheitswesen. Und viele sind auch dort hängen geblieben. Weil sie gemerkt haben, dass es dort andere Arbeitszeiten gibt, die sich vielleicht besser mit der Familie vereinbaren lassen. Sicherheitsbedürfnis in Krisenzeiten nimmt zu In welchen Branchen brennt es am meisten, wo ist der Fachkräftemangel am größten? Wir betrachten das nach Berufsgruppen. In der Altenpflege, natürlich. Dann bei den Produktions- und Fertigungsberufen, etwa Holz- und Metallbearbeitung, Maschinenbau, Betriebstechnik, Mechatronik, Energietechnik, Elektronik. Dann sind die gesamten Bau- und Ausbauberufe besonders betroffen. Auch in der Informationstechnik, bei den Verkehrs- und Logistikberufen sowie im Bereich Gesundheit und Soziales. Wenn wir uns die weitere demografische Entwicklung anschauen, gibt es bald nicht mehr nur einen Fachkräftebedarf, sondern einen Arbeitskräftebedarf. Wie genau sieht der aus? Gibt es bald niemanden, der unseren Wasserhahn repariert? Für OWL können wir sagen, dass in den nächsten zehn Jahren jeder vierte Beschäftigte 65 Jahre alt wird. Für Minden-Lübbecke gilt das auch, da sind es 23 Prozent. Und davon haben 55 Prozent einen Facharbeiterbrief in der Tasche. Das sind die Babyboomer, die jetzt kohortenweise die Unternehmen verlassen. Demgegenüber steht eine wesentlich kleinere Zahl von Menschen zwischen 16 und 20 Jahren. Hier wird jetzt rapide eine Lücke entstehen. Die Altenpflege hat es besonders getroffen, weil die Demografie sich nicht nur auf der Arbeitskraftseite niederschlägt, sondern auch auf der Nachfrage-Seite. Die Menschen werden älter. Hier packt die Demografie von beiden Seiten. Dann sind da Bau- und Ausbauberufe, in denen es in den vergangenen Jahren richtig geboomt hat. Stichworte sind da Infrastrukturinvestitionen, niedriges Zinsniveau, viele Hausbauer. Wir haben Branchen, in denen die Wirtschaft einfach wächst, etwa der gesamte Bereich Klima. Das ist eine Gemengelage, aus der heraus ein ganz großer Fachkräftebedarf entsteht und perspektivisch dann ein Arbeitskräftebedarf. Wie versucht die Agentur für Arbeit gegenzusteuern? Es gibt keinen Königsweg. Man muss versuchen, die ganze Klaviatur zu bespielen. Das Erste ist: Ausbildung. Ich rede schon seit Jahren nicht mehr davon, ob die Jugendlichen geeignet sind, die wir hier haben. Wir brauchen jeden. Wir müssen uns überlegen, wie wir sie befähigen. Wir fangen ja schon in der achten Klasse an mit der Berufsorientierung. Was die duale Ausbildung angeht, da treffen Bewerber im Mühlenkreis auf einen sehr guten Ausbildungsmarkt. Wir haben seit langer Zeit einen quantitativ ausgeglichenen Ausbildungsmarkt und die Schere weitet sich immer mehr zugunsten der Jugendlichen. Das heißt, ich habe wesentlich mehr Stellen, als es Jugendliche gibt, die sich für die duale Ausbildung interessieren. Auf 100 Bewerber kommen mittlerweile 130 Ausbildungsstellen. Man muss die Jugendlichen dazu anregen, den Blick etwas zu weiten. Auf 100 Bewerber kommen mittlerweile 130 Ausbildungsstellen Was empfehlen Sie den Betrieben? Bei denen regen wir an: Schaut euch doch die Jugendlichen von der Motivation her an, ob sie als Mensch zu euch passen, weniger die Bewerbungsunterlagen oder die Schulnoten. Motivation ist am schwierigsten zu schulen. Das Zweite nach der Ausbildung ist die Qualifizierung. Was natürlich ungleich schwieriger ist, wenn viele schon Jahre im Helferbereich tätig sind, sie wieder auf die Schulbank zu bekommen. Wichtig ist auch die Qualifizierung von Beschäftigten. Hier gibt es sehr viele Möglichkeiten, Beschäftigte innerbetrieblich zu qualifizieren, auch mit Begleitung durch uns. Weitere Bausteine sind die Erhöhung von Beschäftigungsquoten bei Frauen, bei Älteren oder indem man sich die Teilzeitbeschäftigten anguckt. Der letzte große Punkt ist die Zuwanderung und die Integration in den Arbeitsmarkt. Ganz aktuell: Die ukrainischen Flüchtlinge, die zu uns gekommen sind, sind gerade in die Jobcenter-Betreuung übergegangen. Sie sind arbeitslos, viele warten auf Sprachkurse. Aber wenn sie die Sprache erlernt haben, wissen wir, dass sie für qualifizierte Vermittlung zur Verfügung stehen. Wodurch zeichnet sich die nächste Generation, die auf den Arbeitsmarkt kommt, aus? Aufgrund von zwei Jahren Pandemie sind die Jugendlichen aktuell für uns wesentlich schwieriger zu erreichen. Praktika, das Erleben eines Berufes: Das alles war nicht möglich. Viele sind daher orientierungslos und entscheiden sich eher für den schulischen Weg, denn den kennen sie ja. Und ein ganz großer Einflussfaktor sind die Eltern. Sie sind im positiven wie im negativen Sinn die stärksten Berater. Auch sie unterstützen oft den schulischen Weg oder das Studium eher als vielleicht eine unbekannte Ausbildung im Handwerk. Oder sie sind angesichts des großen Informationsangebotes überwältigt und die Begleitung unterbleibt. Aber generell gesagt, ist diese nächste Generation auch selbstbestimmter, achtet mehr auf Work-Life-Balance und weiß natürlich auch, dass sich der Markt zunehmend zu ihren Gunsten dreht.

Meistgelesen