Gemeinschaft und Glaube

NW+-Icon
Party-Leben Adieu: Darum wurde eine 28-Jährige in Minden Diakonisse

In einer Zeit, in der sich immer mehr junge Menschen von der Kirche abwenden, hat die junge Frau den entgegengesetzten Weg gewählt und ist Mitglied der Schwesternschaft geworden. Wie kam es dazu?

Schwester Ina Böker arbeitet auf dem Ludwig-Steil-Hof, einer großen diakonischen Einrichtung in Espelkamp. | © Maximilian Hampel

30.09.2024 | 30.09.2024, 11:29

Minden/Espelkamp. Ina Böker wirkt auf den ersten Blick nicht wie eine klassische Diakonisse. Statt traditioneller Tracht trägt sie ein modernes, überwiegend schwarzes Outfit, das sie mit einem roten Rock und buntem Schal kombiniert. Doch das große Diakonissenkreuz um ihren Hals bleibt nicht unbemerkt. „Ich trage das Kreuz immer“, sagt sie. „Auch in meiner Freizeit. Es ist für viele Menschen ein Gesprächsöffner, oft erzählen sie mir etwas über ihren Glauben.“ Ina Böker ist 28 Jahre alt und das mit Abstand jüngste Mitglied der Schwesternschaft der Diakonie Stiftung Salem.

Die Schwesternschaft besteht seit 1868 und ist eine enge Gemeinschaft evangelischer Frauen, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, als Diakonisse anderen Menschen zu helfen. „Aus einem inneren Glauben heraus sind wir tätig in Kirche, Diakonie und Sozialwesen“, steht auf der Website. Diakonissen fühlen sich den christlichen Idealen verpflichtet und sind bereit, ihre Arbeit im Sinne des christlichen Glaubens zu verrichten, heißt es weiter. In einer zunehmend weniger gläubigen Gesellschaft stellt sich die Frage, ob diese Lebensform noch relevant ist, es gibt immer weniger Nachwuchs. Entgegen diesem Trend hat sich die junge Frau dazu entschieden, der Schwesternschaft beizutreten und Diakonisse zu werden. Wie kam es dazu?

Während der Pandemie die Spiritualität wieder entdeckt

Aufgewachsen in Löhne, wurde sie zwar christlich erzogen, doch nach ihrer Konfirmation entfernte sie sich von der Kirche. Die Pubertät und die Ausbildung zur hauswirtschaftlichen Betriebsleiterin ließen sie andere Prioritäten setzen. „Ich habe viel gearbeitet und viel gefeiert“, erzählt sie und lacht. Nach ihrer Ausbildung arbeitete sie mit Demenzkranken, in der Gastronomie und später in einer Reha-Klinik. Doch die Corona-Pandemie veränderte einiges in ihrem Leben.

Newsletter
Update zum Abend
Informiert bleiben mit täglichen News aus dem Kreis Minden-Lübbecke, OWL und der Welt.

Sie hat aufgehört, Alkohol zu trinken. „Dadurch habe ich einen neuen Zugang zur Spiritualität bekommen“, sagt sie. „2020 habe ich wieder zum Glauben gefunden. Plötzlich hatte ich den Drang, der Schwesternschaft beizutreten.“ Sie sei wieder regelmäßig zur Kirche gegangen und hätte einen Berufungsmoment gehabt. „Viele meiner Schwestern hatten ähnliche Erlebnisse.“ Auf die Mindener Schwesternschaft sei sie ganz modern über das Internet gestoßen, erzählt sie schmunzelnd.

Austausch mit anderen Schwestern helfe ihr enorm

Kurz zuvor hat sie 2019 begonnen, auf dem Ludwig-Steil-Hof, einer großen diakonischen Einrichtung mit über 700 Mitarbeitern in Espelkamp, zu arbeiten. „Wir bieten ein breites Angebot an Hilfeleistungen“, erklärt Schwester Ina bei einem Rundgang. Hier arbeiten Menschen in der Jugend- und Seniorenhilfe, der psychosozialen Rehabilitation und der beruflichen Bildung eng zusammen. Außerdem liegt mit den Bischof-Hermann-Kunst-Schulen auch eine Haupt- und eine Förderschule auf dem Gelände. Das parkähnliche Gelände ist so weitläufig, dass die Hausmeister mit Golfkarts von Einrichtung zu Einrichtung fahren.

Als hauswirtschaftliche Betriebsleiterin und Qualitätsmanagementbeauftragte im Bereich berufliche Bildung leitet sie nicht nur die hauswirtschaftlichen Abläufe, sondern ist auch in soziale Projekte eingebunden. Dass es wieder regelmäßige Andachten gibt, ist auf ihr Engagement zurückzuführen, betont sie. Die Arbeit in Espelkamp ist kein Hindernis für ihre Mitgliedschaft in der Schwesternschaft, sondern der Austausch mit anderen Schwestern helfe ihr in ihrer Arbeit enorm, sagt die junge Frau.

Die Oberin der Mindener Schwesternschaft ist seit 2018 Andrea Brewitt. Foto: - © MT-Achiv
Die Oberin der Mindener Schwesternschaft ist seit 2018 Andrea Brewitt. Foto: | © MT-Achiv

Menschen in Not helfen und geistigen Austausch pflegen

Die Gemeinschaft innerhalb der Schwesternschaft betont auch Andrea Brewitt im MT-Gespräch. Seit 2018 bekleidet sie das Amt der Oberin, der Leitungsposition der Mindener Schwesternschaft. Während Corona war der Austausch eine große Stütze. Deswegen sei die Schwesternschaft kein verstaubtes Relikt aus der Vergangenheit, sondern eine Gemeinschaft, die sich den Herausforderungen der Gegenwart stelle. „Wir leben anders als die Schwestern vor uns, aber unser Auftrag bleibt derselbe.“ Wichtig sei es, Menschen in Not zu helfen und geistlichen Austausch zu pflegen – sowohl untereinander als auch mit der Gesellschaft.

In ihrem Umfeld rief die Entscheidung, als junger Mensch der Gemeinschaft beizutreten, keine Verwunderung hervor, betont Ina Böker. „Menschen, die mich richtig gut kennen, wie meine Mutter oder mein bester Freund, hat es nicht überrascht.“ Wirklich negativ habe aber niemand reagiert. „Selbst Leute, die sagen, sie haben nichts mit der Kirche zu tun, wollten plötzlich mit mir über Glauben sprechen“, sagt sie. „Ich habe kein Verlangen mehr nach dem Party-Leben. Heute liegt mein Fokus auf dem Glauben und dem Dienst am Menschen“, betont sie. In den zwei Jahren seit ihrem Eintritt habe sie die Entscheidung nie bereut.

Früher lebten alle Schwestern gemeinsam im Mutterhaus an der Kuhlenstraße. MT-Foto: - © Alex Lehn
Früher lebten alle Schwestern gemeinsam im Mutterhaus an der Kuhlenstraße. MT-Foto: | © Alex Lehn

Reine Glaubensgemeinschaft statt Lebensgemeinschaft

Ob sie heiraten und Kinder bekommen möchte, weiß sie noch nicht. Wichtig sei, dass heutige Diakonissen die Wahl haben. Die alte Ordnung beinhaltete strikte Regeln und eine festgelegte Lebensweise, bei der die Schwestern gemeinsam in einem Mutterhaus lebten. Sie waren häufig in sozialen Einrichtungen tätig und durften nicht heiraten und Kinder bekommen, mussten ihr Einkommen abgeben und von einem Taschengeld leben. Sie gehörten mit ihren weißen Hauben und den dunklen Kleidern und Mänteln noch mindestens bis in die 1990er-Jahre zum Mindener Straßenbild. Eine Diakonisse alter Ordnung wäre sie nicht geworden, sagt sie. „Ich war mal in einem Schweigekloster in Bayern. Das war sehr schön, aber es war auch schön, wieder nach Hause fahren zu können.“

Die Mindener Schwesternschaft habe sich erst 2004 für die neue Ordnung entschieden, erklärt die Oberin. „Seitdem sind wir eine reine Glaubensgemeinschaft und keine Lebensgemeinschaft mehr.“ Die Schwestern leben eigenständig, dürfen heiraten und Kinder bekommen sowie ihr Einkommen behalten. Nicht alle hätten dies mitbekommen, sagt die Oberin. „Viele denken, wir leben im Zölibat.“ Aktuell habe die Mindener Schwesternschaft 43 Mitglieder, davon zwei ältere Frauen, die nach alter Ordnung leben, aber mittlerweile aus dem Mutterhaus in Pflegeeinrichtungen zogen. 1950 waren es noch 360 Schwestern in Minden, die vor allem im Klinikum gebraucht wurden. Viele sind auf einem eigenen Gräberfeld auf dem Südfriedhof beerdigt.

Traditionelle Tracht wird nicht mehr regelmäßig getragen

Heute entrichten die Schwestern einen Mitgliedsbeitrag, auch die Tracht wird seltener getragen. Diese wird innerhalb der Schwesternschaft vererbt und wurde, wie ihr Diakonissenkreuz, bereits von verstorbenen Schwestern getragen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als die in Pommern gegründete Schwesternschaft in den Westen geflohen ist, seien diese in die Tracht eingenäht gewesen. „Es sind wertvolle Stücke, die weitergegeben werden“, erklärt Böker. Dennoch möchte sie die Tracht nicht regelmäßig tragen. „Ich mag mich modisch kleiden und finde persönlich, das Kreuz reicht.“

Ina Böker trägt keine Tracht im Alltag. Sie sagt, das Diakonissen-Kreuz reiche ihr. Im Gegensatz zu frühreren Diakonissen ist ihr Arbeitsplatz ein Büro. MT-Foto: - © Maximilian Hampel
Ina Böker trägt keine Tracht im Alltag. Sie sagt, das Diakonissen-Kreuz reiche ihr. Im Gegensatz zu frühreren Diakonissen ist ihr Arbeitsplatz ein Büro. MT-Foto: | © Maximilian Hampel

Tracht trägt sie nur bei regelmäßigen Zusammenkünften mit anderen Schwestern im Mutterhaus in Minden. Dort finden Andachten, Vorträge und geistlicher Austausch statt. „Ich profitiere enorm von der Lebenserfahrung meiner Mitschwestern“, sagt sie. Auch wenn es immer weniger Frauen gibt, die diesen Weg einschlagen, sieht sich die Gemeinschaft als Teil eines großen Ganzen. Die Schwesternschaft ist Mitglied im Kaiserswerther Verband, einem Netzwerk von rund 70 Mutterhäusern in Deutschland. „Wir sind noch nicht ausgestorben“, betont Brewitt und wünscht sich, dass sich mehr Frauen dieser Aufgabe anschließen.

Die Realität ist eine andere. Der Anteil der Christen in der Bevölkerung sinkt seit Jahren, nur knapp die Hälfte der Deutschen sind Kirchenmitglieder. Auch deswegen war es für die Schwesternschaft eine Freude, als Böker sich 2022 entschlossen hat, beizutreten, erzählt die Oberin. Dass es in ihrer Generation immer weniger Kirchenmitglieder gibt, kann die junge Frau nachvollziehen. „Ich bin nicht mit allem einverstanden, was die evangelische Kirche macht, aber ich wünsche mir, dass die Menschen sich nicht komplett vom Glauben abwenden.“ Sie hofft, dass Menschen, die austreten, mit dem Christentum verbunden bleiben. „Wenn sich Leute ganz abkehren und statt zur Kirche zu gehen Yoga machen, dann ist das für mich als Diakonisse schwierig.“ In ihrem Freundeskreis seien viele gläubig, aber es sei gemischt. Ihr bester Freund glaubt gar nicht.

Nachwuchsmangel macht sich bemerkbar

Für Böker ist der offene Umgang mit Religion in der Gesellschaft ein großes Thema: „Es ist heute einfacher, über Tabuthemen wie Sexualität zu sprechen, als über den Glauben. Viele Menschen sind in solchen Gesprächen unsicher.“ Sie wünscht sich, dass die Gesellschaft wieder „religiös sprachfähig“ wird. Über seinen Glauben spricht man kaum, bemängelt sie. „Die Leute werden rot, wenn sie es tun. Religion ist ein schambehaftetes Thema“, bemängelt sie. Auch um das zu ändern, spricht sie offen über ihren Glauben.

Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bedeutet für sie ein Leben in Hingabe: „Ein Leben für den Dienst am Menschen. Das kann ich heute auch aus dem Büro heraus, denn meine Gabe ist das Organisieren.“ Darüber hinaus ist sie von ihrem Arbeitgeber für ein paar Tage im Jahr freigestellt, um seit 2023 eine diakonische Ausbildung an der evangelischen Bildungsstätte in Bethel zu absolvieren. Unterrichtet wird Seelsorge, Ethik, aber auch Diakonie.

Wird die Schwesternschaft aussterben?

Sie bedauert, dass dort aufgrund des Nachwuchsmangels keine Kurse für Diakonissen mehr zustande kommen. Stattdessen besucht sie Kurse für Diakone, die eine ähnliche Ausbildung bieten. „Dass die Schwesternschaft ein zukunftsfähiges Konzept ist, glaube ich nicht“, sagt sie mit Blick auf den fehlenden Nachwuchs. „Es ist unrealistisch.“ Es macht ihr aber Hoffnung, dass sich an der evangelischen Bildungsstätte immer noch junge Menschen für die Ausbildung zum Diakon entscheiden.

Oberin Brewitt hofft auf einen Fortbestand der Schwesternschaft. „Mein größter Wunsch ist, dass wir nicht aussterben.“ Es sei wichtig, dass der Gedanke der Nächstenliebe weitergelebt werde. „Gerade bei der aktuellen Bedrohung von Rechts.“ Böker kennt zwar Frauen in ihrem Alter, die grundsätzlich Interesse hätten, der Schwesternschaft beizutreten. „Denen ist es aber oft zu viel. Es kostet Zeit, es kostet Kraft und in unserem Alter hat man ja auch anderes zu tun.“ Sie freue sich aber über jede Frau, die diesen Schritt gehen möchte, jenseits vom Lebensalter.