Totschlag im Bad Oeynhausener Kurpark: Hilflos im Umgang mit Dummdreistigkeit

&bdquo;Die Zivilisation ist eine ganz dünne Kruste über einem Vulkan“, hat der Philosoph Ernst Cassirer gesagt. Sigmund Freud hielt gar das &bdquo;primitive Seelische im vollsten Sinne“ für unvergänglich. Seit Monaten demonstrieren Angeklagte, Zeugen und Juristen vor dem Bielefelder Landgericht, was gemeint sein könnte. Wie ein Prisma bricht der Prozess, in dem ein 19-jähriger Syrer von der Staatsanwaltschaft beschuldigt wird, Philipos Tsanis totgeschlagen zu haben, den dünnen Firnis der Zivilisation und gewährt Einblicke in vorzivilisatorische Abgründe. Wenn es stimmt, dass der Mensch sich sittlichen Normen und Gesetzen nicht aus Überzeugung unterwirft, sondern weil er Angst vor der Rache der Gemeinschaft hat, dann spricht das Verfahren Bände, denn Angeklagten und dem Gros der Zeugen scheint diese Angst abhanden gekommen zu sein. Bei der Suche nach der Wahrheit wird gelogen, getäuscht und gepoltert, dass sich die Balken biegen. Schöner könnte sich selbst das Trash-TV kein Verfahren vorstellen, bietet es doch obszöne Aufnahmen einer Kultur, die vor die Hunde geht. Das Leid des Nächsten wird lustvoll dokumentiert in Videosequenzen, die Täter und/oder Zeugen wie Trophäen sammeln. Doch kann man so besoffen sein, dass man einen brutalen Totschlag filmt und sich am Leid des Opfers ergötzt? Man kann den ab und an mit seiner Contenance ringenden Richter menschlich verstehen, wenn er am Dargebotenen zweifelt, aus der Haut fährt und sich im Ton vergreift. Ob dieses Verhalten aber dem offenbar arg ramponierten Respekt vor der Judikative dient, sei ebenso dahingestellt, wie die Frage, ob die Ursachen der Ausraster auch Konsequenzen zeitigen werden. Der Richter verzweifelt an einer Generation Die bisweilen vor Selbstmitleid zerfließenden Zeugen, die nur das zur Wahrheitsfindung beitragen, was eh schon offenbar ist, lassen den Richter gar an einer Generation verzweifeln. Das mag übertrieben sein, veranschaulicht aber, dass sich Anklagende und Richtende auf einer anderen Umlaufbahn befinden als die Angeklagten und die meisten Zeugen. Die Suche nach Schuld und Verantwortung misslingt, weil beide Seiten die Verfahrensregeln kennen und anerkennen müssten, damit die Mühen der juristischen Ebene sich tatsächlich lohnen könnten. Das Verfahren zeigt hingegen, dass Angeklagte und Zeugen mit einer Dummdreistigkeit durchkommen, die den Verdacht nahelegt, dass die Justiz ratlos ist, wie sie mit Angeklagten und Zeugen verfahren soll: Man versteht sich schlicht nicht. Lesen Sie auch: Philipos-Prozess: &bdquo;Übel, widerlich und unglaublich“ Dieses sehr früh sehr politisch aufgeladene Verfahren, das reflexhaft als Musterbeispiel für misslungene Integration galt, weil rechte Kreise nicht schnallten, dass auch das Opfer einen Migrationshintergrund hatte, zerbröselte zunächst den Politikern und dann dem Ankläger in den Fingern. Das heißt nicht, dass die Staatsanwaltschaft nicht den wahren Täter im Visier haben kann, sondern nur, dass sie sich dessen wohl zu früh zu sicher war. Früh berichtet die NW über ein Video der Tat Wie anders ist es zu erklären, dass erst jetzt die abstoßenden Videosequenzen auf den von den Strafverfolgungsbehörden sichergestellten Smartphone-Speichern entdeckt wurden? Hat man nicht richtig gesucht? Recherchen der Neuen Westfälischen unmittelbar nach der Tat haben auf die Möglichkeit verwiesen, dass es bewegte Bilder von der Tat geben könnte. Diese Recherchen meinten die Ermittler ignorieren zu können. Nun entschuldigt sich der Staatsanwalt dafür, erst jetzt das Videomaterial entdeckt zu haben. Doch das Verzeihen ist eine Holschuld, die man zu erbitten hat - ein bloßes mea culpa reicht nicht. Lesen Sie auch: Philipos–Prozess: Zeugin gesteht Absprachen, Verteidiger-Anwalt will Haftentlassung Wo aus Mitangeklagten Zeugen werden und Zeugen wie Mittäter erscheinen, wird aus der vom Staatsanwalt postulierten Eindeutigkeit des Geschehens eine verwirrende Vieldeutigkeit. Und diese Deutungen offenbaren, dass das Grauen über die Tat wesentlich komplexere Züge tragen könnte als das, was vor dem Landgericht verhandelt wird. Dieser Totschlag ist gerade wegen seiner Begleitumstände, wegen der Filmenden und der Lügenden ein Zivilisationsbruch, weil sie mit ihrer das Opfer verachtenden Strategie durchkommen könnten, weil diese Gesellschaft nicht weiß, wann das Verstehen, das Verzeihen ein Ende haben muss und wann aus Toleranz Gleichgültigkeit wird. 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke

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