Der Retter von Bad Oeynhausen war SS-Offizier

Bad Oeynhausen. Das Kriegsende in der Kurstadt am 3. April 1945 ist der Anfang einer hollywoodtauglichen Heldengeschichte, des Romans &bdquo;Don’t kiss Tommy“ und Gegenstand vieler Zeitzeugenberichte. Ein 46-jähriger Arzt soll sich am Morgen ein weißes Betttuch gegriffen haben, auf sein NSU-Motorrad geklettert und den feuernden Panzern entgegen geknattert sein, um Bad Oeynhausen kampflos und damit unblutig den Amerikanern zu übergeben. Wenig später soll der Arzt auf der Motorhaube eines Jeeps zurück in die Kurstadt gerollt sein und die verbliebenen Landser dazu gebracht haben aufzugeben. Den Arzt dieser Heldengeschichte gab es wirklich. Er hieß Werner Aly, war 46 Jahre alt und Chefarzt des Teillazarettes in den Johanniter Ordenshäusern. Werner Aly war aber auch, das zeigen Recherchen der NW, ranghoher Offizier der Schutzstaffel (SS), Mitglied der vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler protegierten Forschungsgemeinschaft &bdquo;Deutsches Ahnenerbe“ und Parteigenosse der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Das geht aus bislang unveröffentlichten Dokumenten aus dem Bundesarchiv Berlin hervor. Ein gebildeter und überzeugter Nazi Der Retter der Kurstadt war ein gebildeter und ein überzeugter Nazi - mit Fronterfahrung aus dem Ersten Weltkrieg. Aly kämpfte als Kriegsfreiwilliger ab 1917 erst im Feldartillerieregiment 58 und schließlich im Marine-Flakzug 3. Das beschreibt Aly selbst in einem handschriftlichen Lebenslauf, der seinem Heiratsersuchen 1941 an das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS beigefügt ist. Da rechnet er noch mit &bdquo;baldiger Frontversetzung“. Radikalisiert hat sich Aly wohl nach der Kapitulation des Deutschen Reichs. Der arbeitslose Soldat war unzufrieden mit dem Versailler Friedensvertrag, politisierte sich und machte einige Monate bei einem Freikorps in Vorpommern mit. Schließlich studierte Aly in Greifswald und Bonn Medizin. 1927 übernahm er die Praxis seines Vaters in Bad Oeynhausen. Abseits davon hatte er ein Faible für germanische Vor- und Frühgeschichte und die Externsteine, die der Verein Ahnenerbe ideologisch erforschte. Diese Vorliebe teilte er mit Heinrich Himmler. Nach Kriegsbeginn stritten Funktionäre des Ahnenerbes mit dem Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg über den Zugriff auf Raubkunst. Werner Aly wurde Vater von vier Kindern. Seine Frau starb 1940 bei der Geburt des fünften Kindes. Bis dahin war Aly immer wieder im Einsatz als Nazi-Funktionär. In seiner SS-Führerstammkarte deutet unter der Abkürzung &bdquo;RPT 1934“ ein Eintrag in der Rubrik &bdquo;Aufmärsche“ möglicherweise auf eine Teilnahme des SS-Arztes am Reichsparteitag der NSDAP 1934 hin, den Leni Riefenstahl filmisch in Szene setzte. 1935, 36 und 38 war Aly als Stabsarzt der Reserve immer wieder auf vierwöchigen Militärübungen der Sanitätsstaffel im Einsatz. Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass sich der SS-Arzt während des Zweiten Weltkriegs woanders als in Bad Oeynhausen aufgehalten hat. Vom Stahlhelm in die SS Sein Vater Wilhelm Aly (1860-1928) hat in der Kurstadt einige Berühmtheit erlangt. Er stammte aus Magdeburg und hatte sich wenige Jahre vor der Geburt seines Sohnes Werner 1899 in Bad Oeynhausen niedergelassen. Wilhelm Aly soll 1906 den Rollstuhl als medizinisches Hilfsmittel eingeführt haben. Bis zu seinem Tod trug er den Ehrentitel eines preußischen Sanitätsrats. Der Sohn wollte offenbar nicht in die Fußstapfen des Vaters treten. Werner Aly, da war er schon Hausarzt in Bad Oeynhausen, trat 1929 erst dem Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, bei und wurde im Dezember 1932 &bdquo;im gegenseitigen Einverständnis“ in die SS übernommen, wie Aly selbst schreibt. In der SS machte er Karriere als Funktionsarzt, wurde 1936 zum Untersturmbannführer befördert und als Sanitätsoffizier in der Wehrmacht übernommen. 1945 war Aly Oberstabsarzt im Range eines Majors. In der 1979 veröffentlichten Stadtchronik von Gerhard Lietz schildert Werner Aly seine Motorradfahrt selbst: Der Stadtkommandant Oberst Heising habe sich mit seiner Truppe um 6 Uhr morgens über die Weser abgesetzt. Der Chef des Gesamtlazaretts, Oberstabsarzt Gehlen, habe ihn dann angerufen: &bdquo;Aly, fahren Sie los und übergeben Sie die Stadt!“ Und das tat Aly. Im Sanatorium Weidner, es befand sich am Westkorso, nur einen Katzensprung von den Johanniter Ordenshäusern entfernt, holte er ein weißes Laken und setzte sich auf seine NSU. Auf dem Beifahrersitz will er einen Hauptmann Krüger mitgenommen haben. &bdquo;Der amerikanische Beschuss auf Oeynhausen hatte schon begonnen, und ich fuhr in Richtung der feuernden Panzer, die ich etwa in Höhe der Witteler Schule erreichte.“ Ein SS-Offizier fährt den Amis entgegen? Erzählungen von diesem Himmelfahrtskommando verbreiteten sich offenbar in Windeseile in der Stadt. Auch der Zahnarzt Kurt Venker hörte von der Alys Motorradfahrt in der Südstadt, verlegte die Kapitulation der Kurstadt in seinen Notizen aber auf den 2. April, einen Tag früher. Mehrere Zeitzeugen berichteten, dass die Südbahnbrücke an der Koblenzer Straße in Melbergen als Panzersperre vom Volkssturm verteidigt werden sollte – damals wollen sie einen Motorradfahrer durchgelassen haben. Aly und Krüger knatterten also den Amis entgegen und kamen wenig später als merkwürdige Gefangene auf der Motorhaube eines Jeeps zurück in die Stadt. Auf dem Wittel waren sie in die Hände der Amerikaner gefallen. Deren Gefechtsstand soll sich damals in der Gaststätte Witteler Krug befunden haben. Doch warum sollte ein überzeugter Nazi und SS-Offizier so viel riskieren, um die Kurstadt den Amerikanern zu übergeben? Befolgte er bloß Befehle? Der inzwischen verstorbene Heimatforscher Heinrich Langejürgen hat in Gesprächen mit der NW Zweifel geäußert. Er war überzeugt, dass der Jude und Rechtsanwalt Walther Kronheim (1896-1950) die Stadt vor Schlimmerem bewahrt hat. Kronheim soll bereits kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner sein Versteck auf dem Hof Steinmeyer in der Körnerstraße verlassen haben. Und am 3. April soll Kronheim den amerikanischen Panzern, die ins Dichterviertel rollten, sogar entgegengegangen sein. Offenbar gewann er rasch das Vertrauen der Besatzer. Gerüchte, Kronheim würde als Bürgermeister eingesetzt, kursierten im Rathaus schon am 7. April, am 13. April 1945 wurde es offiziell. Der Arzt wird zur Kühlerfigur auf dem Jeep Allerdings schilderten auch US-Soldaten Alys Motorradfahrt. Sie ist in einem Propagandabericht über die spielend leichte Eroberung von Bad Oeynhausen zu finden: &bdquo;Früher ein Militär-Sammelpunkt, war die Stadt jetzt jedoch mit verwundeten und genesenden deutschen Soldaten gefüllt“, heißt es darin. Leutnant Enno Hobbing und die Feldwebel Wolf und Marx sollen mit den beiden &bdquo;vorn auf der Motorhaube hockenden Offizieren“ durch die Straßensperre in die Kurstadt gefahren sein. Wegen ihrer Regenmäntel und ihres fehlerfreien Deutschs sollen die US-Amerikaner zunächst nicht als feindliche Soldaten erkannt worden sein, schreiben die Autoren amüsiert in ihrem Report, der dem Tageslagebericht der 5. US-Panzer-Division am 8. April 1945 den US-Truppen zur Motivation beigelegt wurde. Er ist 1995 in den Beiträgen zur Heimatkunde veröffentlicht. Ziel der Amerikaner war das Postamt, wo Leutnant Hobbing sich eine Verbindung zum Stadtkommandanten von Minden schalten ließ, um ihn ebenfalls, allerdings zunächst erfolglos, zur Kapitulation aufzufordern. Die Kurstadt streckte am 3. April 1945 um 15.15 Uhr die Waffen. 200 Soldaten ergaben sich. Die anderen hatten sich offenbar zuvor mit Stadtkommandant Oberst Heising über die Weserbrücke der Autobahn zurückgezogen. Dann wurde die Brücke gesprengt. Die US-Panzer suchten sich einen anderen Weg.

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