Bad Oeynhausens Bürgermeister: „Unser System ist an seinen Grenzen angekommen“

Herr Bökenkröger, seit der Gewalttat auf den Kurhausterrassen ist etwas mehr als eine Woche vergangen. Was hat dieser schreckliche Vorfall mit der Stadt und mit Ihnen gemacht? Lars Bökenkröger: Es war, das hat man deutlich gemerkt, eine hochemotionale Woche in Bad Oeynhausen. Eine Mischung aus tiefer Trauer, Fassungslosigkeit, aber auch eine große Wut über die Brutalität, die der Täter hier an den Tag gelegt hat. Man merkte, wie aufgewühlt die Bevölkerung ist. Viele haben den Mittwochabend genutzt und haben bei der Gedenkveranstaltung im Kurpark ihrer Trauer Raum gegeben. Die Anteilnahme war groß, rund 700 Bürger kamen, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Wie geht eine Stadt, wie gehen Sie selber, mit einer solchen Tat um? Ich glaube, man braucht die Möglichkeiten, seine Gefühle zu zeigen und darüber zu sprechen. Es war in der ersten Phase ganz wichtig, sprachfähig zu sein, was eine solche Tat bedeutet. Und zwar mit allen Facetten, mit Diskussionen über Sicherheit, Diskussionen über Jugendgewalt - das galt es zu kanalisieren und damit umzugehen. Mittlerweile haben solche Fälle aber auch eine große politische Dimension, es wird sofort politisiert, oftmals, ohne die Hintergründe zu kennen. Lesen Sie dazu auch: Hunderte Bad Oeynhausener gedenken Philipos T. Welche Fragen müssen in Bad Oeynhausen und vielleicht auch in ganz Deutschland angegangen werden? Das Thema Sicherheit? Es ist nicht nur das Thema Sicherheit. Wir müssen uns durchaus die Frage stellen, ob unser System noch funktioniert - das fängt bei den Kitas an und geht in den Schulen weiter. Wir müssen schauen, ob wir dort nicht mittlerweile schon Grenzen überschritten haben. Ob die Themen, die es dort gibt - Inklusion, Integration - so noch funktionieren. Was kann denn eine Kommune tun, was kann ein Bürgermeister tun, um etwas zu verändern? Es ist schon fast frustrierend! Wir haben das System einfach überreizt. Vor 15 bis 20 Jahren hieß es noch, wir haben einen demografischen Wandel, die Schülerzahlen sinken. Seit 2015 haben wir aber unwahrscheinlich viele Flüchtlinge aufgenommen, um die wir uns kümmern mussten. Wir haben den Ukraine-Konflikt - ebenfalls mit Flüchtlingen. Das, was wir getan haben, scheint alles nicht mehr zu reichen. Wir als Kommune brauchen einfach die Hilfe vom Land und vom Bund. Wie sahen denn die ersten Reaktionen von Land und Bund aus? Es hat mich schon sehr enttäuscht, dass es so gar keine Reaktionen gab. Kein Zeichen, keine Unterstützung, nichts. Auch das ein gutes Beispiel dafür, dass die Kommunen von Land und Bund völlig im Stich und mit den vielen Themen und Herausforderungen, die wir haben, allein gelassen werden. Das macht mich auch ein stückweit wütend. Wir müssen Flüchtlinge aufnehmen, wir müssen dafür zusätzliche Kita-Plätze schaffen und an den Schulen Sozialarbeiter stellen - all das sind eigentlich keine ureigenen Aufgaben der Kommunen. Aber all das wird auf uns abgewälzt. Wir sind bei diesen Dingen nicht nur an unseren Grenzen, sondern haben sie bereits überschritten. Es braucht also Geld von Land und Bund? Es braucht Geld, es braucht Personal - und das fehlt. In den Kommunen sind die Haushalte durch explodierende Sozialkosten und hohe Tarifabschlüsse tief rot. Das Personal ist schwer zu finden. Suchen Sie mal Schulsozialarbeiter - die gibt es nicht. Aber der Bedarf ist da. Ich bekomme Brandbriefe von den Schulen, die Schulsozialarbeiter fordern. Die städtischen Geldtöpfe aber sind leer, es ist nichts mehr da, was ich umschichten könnte. Zumal diese Stellen eigentlich Landesaufgabe wären. In den vergangenen Tagen gab es mehrere Veranstaltungen rechter Gruppen und Parteien in Bad Oeynhausen, die den Wünschen der Opferfamilie zum Trotz, Mahnwachen für den getöteten 20-Jährigen abgehalten haben. Im Kurpark waren zudem rechte Fernsehsender unterwegs, die trauernden jungen Menschen aufgelauert haben. Wie kritisch sehen Sie das? Gibt es Überlegungen, im Kurpark vom Hausrecht Gebrauch zu machen? Ich habe vor einigen Monaten versucht, ein Veranstaltungsverbot der AfD in der Wandelhalle durchzusetzen, aber die Politik in Bad Oeynhausen hat das komplett abgelehnt. Somit müssen wir es gesellschaftlich ertragen, dass auch rechtsradikale Parteien im Kurpark anwesend sind. Ich habe meine Haltung dazu klargemacht, aber habe dafür keine Mehrheit gefunden. Schon bei der Gedenkveranstaltung waren rechtsradikale Fernsehsender vor Ort, was mich massiv gestört hat. Es gab gleich von Anfang an eine Politisierung der Tat, was es nicht leichter macht. Lesen Sie dazu auch: Zeugen sollen die Prügelattacke im Kurpark gefilmt haben – Bad Oeynhausener Verdächtiger schweigt Die Tat, für die ein 18-jähriger syrischer Flüchtling verantwortlich sein soll, hat eine Diskussion über Abschiebung straffälliger Asylbewerber und Flüchtlinge ausgelöst. Wie stehen Sie dazu? In der Gesellschaft müssen wir konsequenter sein. Es muss die Möglichkeit geben, dass Menschen, die hier zu Gast sind und gewalttätig werden, konsequent abgeschoben werden können. Ich fordere aber auch, dass gerade Bund und Land den Kommunen weitere Möglichkeiten geben, wenn es um das Thema Sicherheit geht. Videoüberwachung von bestimmten Bereichen zum Beispiel. Was braucht es für mehr Sicherheit? Wir als Kommune haben wenig Handlungsmöglichkeiten, wenn es um Sicherheit geht. Die Polizei ist beim Kreis aufgehängt - auch da fehlt es an Personal und es soll laut NRW-Innenminister noch mehr eingespart werden. Unsere Möglichkeiten als Stadt sind also sehr begrenzt. Viele Bürger fordern eine Videoüberwachung in der Stadt oder im Kurpark- die darf ich aber rechtlich im öffentlichen Raum gar nicht umsetzen. Auch da müsste die Politik uns durch einen geänderten rechtlichen Rahmen Möglichkeiten an die Hand geben, dass wir die Chance haben, bestimmte Plätze wie den Park oder den Bahnhofsvorplatz, überwachen zu können. Im europäischen Ausland passiert das ja bereits - und das erfolgreich. Bei uns steht immer wieder der Datenschutz im Weg. Ist die Sicherheitslage in Bad Oeynhausen denn tatsächlich so dramatisch oder kocht es nur gerade hoch? Die Polizei sagt immer, die Zahlen sprechen eher dafür, dass Bad Oeynhausen eine sichere Stadt ist. Aber es gibt natürlich das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger. Dem müssen wir auch begegnen. Das geht durch eine hohe Polizeipräsenz, hier und da durch städtebauliche Maßnahmen, wie mehr Licht, mehr Beleuchtung - ansonsten ist es eher schwierig, dem subjektiven Gefühl entgegenzutreten. Wir haben einen Sicherheitsdienst im Kurpark, aber der ist natürlich nur punktuell unterwegs. Wir verhindern vielleicht Schmierereien, Vandalismus und kleine Drogengeschäfte und vertreiben die ein oder andere Jugendgruppe. Der mutmaßliche Täter ist mit rund zehn oder elf Jahren nach Deutschland gekommen, hat hier die Schule besucht, bei Vereinen mitgemacht - was läuft schief bei der Integration? Das ist eine gute Frage. Ich kenne den mutmaßlichen Täter nicht. Aber sicherlich geht es auch um dessen Sozialisation. Er kommt aus einem Land, in dem Krieg herrscht. Wo es eine ganz andere Form von Gewalt gibt, die Kinder natürlich mitbekommen. Auch darüber muss man sprechen - zumal wir aus Afghanistan, Irak oder Syrien viele Zuweisungen gehabt haben in den letzten Jahren. Die Kinder dort haben ganz andere Dinge erlebt, als Kinder hier. Vielleicht gibt es dadurch eine ganz andere Hemmschwelle. Lesen Sie dazu: Anteilnahme oder Hetze? Rechte greifen tödliche Attacke vom Bad Oeynhausener Kurpark auf Hinzu kommt, dass die Schulen an ihren Grenzen angekommen sind. Manche Schulen haben einen Migrationsanteil von 70, 80 oder sogar 90 Prozent. Da bleibt einfach keine Zeit, sich um die Jugendlichen zu kümmern. Die Kinder werden nur noch verwaltet, da geht es kaum noch darum, Lernstoff zu vermitteln. Vom Sozialverhalten ganz zu schweigen. Das kann so nicht bleiben. Hinzu kommt der neue Rechtsanspruch im offenen Ganztag der Grundschulen, für den wir als Stadt baulich gefordert sind. Es braucht auch dort mehr Personal. Das gesamte System ist am Limit angekommen. Wichtig ist, dass wir die Menschen, die wir aufnehmen, in Arbeit bekommen und sie Deutsch lernen - dann kann Integration funktionieren. Sonst eher nicht. Und so hart das klingt: Wir brauchen einen Aufnahmestopp von Flüchtlingen. Mehr schafft unser System nicht. Sie haben angedeutet, dass Sie für das Opfer, den 20-jährigen Philipos, einen Erinnerungsort im Kurpark schaffen möchten. Wie kann der aussehen? Das kann eine Plakette sein, eine Steele, ein Baum - ich habe noch nichts Konkretes vor Augen. Ich glaube, man muss mit etwas Abstand schauen, was es sein könnte.

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