Wittekindshof bittet um Entschuldigung

Bad Oeynhausen. Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft Bielefeld gegen vier ehemalige leitende Angestellte des Wittekindshofs wiegen schwer. Es geht um das systematische Wegsperren von besonders herausfordernden Menschen mit Behinderung, den Einsatz von Tränengas und bei einem Bewohner auch um chemische Kastration. Nach drei Jahren Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft 36 Betroffene ausgemacht. Die Anklage bezieht sich allerdings nur auf 16 Betroffene, deren Fälle besonders schwer wiegen. Im Mai 2019 hatte die Betreuerin eines ehemaligen Bewohners Strafanzeige gestellt, weil ihr Bruder elf Monate in einem neun Quadratmeter großen Zimmer ohne Freigang und mit Medikamenten ruhig gestellt wurde. Das hat den Stein ins Rollen gebracht. Einen Tag nach der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft reagiert Wittekindshof-Vorstand Dierk Starnitzke auf die Vorwürfe. In einer dreiseitigen, schriftlichen Pressemitteilung, die mit diesen Worten endet, erklärt Starnitzke: "Gegenüber den betroffenen Menschen will ich mein aufrichtiges Bedauern zum Ausdruck bringen. Und ich möchte sie um Entschuldigung bitten – für das, was sie im Wittekindshof erlitten haben sollen." Es sei ihm persönlich ein "aus tiefem Herzen sprechendes Anliegen", dass Menschen mit Behinderungen keine Gewalt erfahren dürfen und dass solche Vorgänge transparent aufgearbeitet werden müssen. Auf die konkreten Vorwürfe der Staatsanwaltschaft dürfe er nicht näher eingehen. Vorstand und Stiftungsrat würden aber "nicht eher ruhen, bis diese Geschehnisse restlos aufgeklärt und aufgearbeitet sind". Dies sei auch eine historische Verantwortung. Nach dem Bekanntwerden des Skandals im Heilpädagogischen Intensivbereich seien im Oktober 2019 "die gebotenen Konsequenzen" gezogen worden. Der Intensivbereich wurde aufgelöst. Dem Leiter des Geschäftsbereichs sei gekündigt und Hausverbot erteilt worden. Die weiteren Angeklagten seien "schon seit langem nicht mehr im Dienst", heißt es in der Pressemitteilung. Man habe arbeitsrechtliche Konsequenzen angeordnet und vollzogen: Beendigungen des Arbeitsverhältnisses, Versetzungen und Abmahnungen. Die Beschuldigten seien zügig freigestellt worden. Tägliche Prüfung und Vieraugenprinzip Zudem habe der Wittekindshof die eigenen Konzepte und Strukturen geprüft und überarbeitet. Es gebe regelmäßige, verpflichtende Schulungen zur Gewaltprävention. "Freiheitsentziehende Maßnahmen als letztes Mittel müssen dabei nach dem neuen Konzept, wo immer das die personelle Besetzung ermöglicht, nach dem Vieraugenprinzip durchgeführt werden. Die Bereichsleitung muss täglich die Abläufe überprüfen, die vorgesetzte Geschäftsbereichsleitung zusätzlich wöchentlich." Zudem habe die Stiftung die Vorgaben des neuen Teilhabestärkungsgesetzes von Juni 2021 umgesetzt und Ende Februar 2022 ein institutionelles Gewaltschutzkonzept erarbeitet, das mit dem Kreis Minden-Lübbecke abgestimmt und in "enger Kooperation" mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe vorangetrieben wurde. Starnitzke: "Für jeden der Bewohnerinnen und Bewohner des ehemaligen Intensivbereiches wurden hoch individualisierte neue Betreuungs- und Wohnkonzepte aufgestellt und verbindlich vereinbart. Dadurch wurde deren Wohnsituation grundlegend verbessert. Die Kinder, Erwachsenen und Senioren, für die wir arbeiten, sind unsere Auftraggeber. Gemäß unserem Leitbild stehen ihre Wünsche und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt all unserer Anstrengungen." Starnitzke verweist zugleich auf die Grenzen der Eingliederungshilfe. Der Wittekindshof ist keine forensische Klinik für Psychiatrie. Trotzdem gibt es Bewohner mit besonders herausforderndem Verhalten. Unter den Bewohnern gebe es "etliche Menschen, bei denen Selbstgefährdungen und ebenso massive Fremdgefährdungen eine ständige Bedrohung darstellen", so Starnitzke. Das seien Menschen, die sich selbst verletzen wollen und deshalb täglich vor sich selbst geschützt werden müssten. Es gebe diese Menschen aber nicht nur im Wittekindshof, sondern im ganzen Land und sie könnten "unter den bisherigen Bedingungen der Eingliederungshilfe aufgrund ihres Verhaltens kaum angemessen unterstützt werden". Starnitzke fordert deshalb "dringend eine deutliche Ausweitung der Betreuungsmöglichkeiten". Und zwar "entweder innerhalb der Eingliederungshilfe oder in einem eigens dafür neu zu schaffenden Betreuungssystem". Das betreffe die organisatorischen, finanziellen und personellen Rahmenbedingungen, aber auch die entsprechenden rechtlichen Fragen, gesetzlichen Vorgaben und fachlichen Entwicklungen. "Mit diesen Feststellungen wollen wir aber nicht von eigenen Versäumnissen ablenken." SPD-Sozialpolitiker lehnt alternatives Betreuungssystem ab Ein neues, eigens zu schaffendes Betreuungssystem lehnt der SPD-Sozialpolitiker Günter Garbrecht dagegen ab, wie er im Gespräch mit der NW betonte. Der Vorschlag eines solchen Sondersystems zwischen Eingliederungshilfe und Maßregelvollzug werde von allen anderen beteiligten Institutionen abgelehnt. Garbrecht ist Vorsitzender einer Expertenkommission zum Gewaltschutz in der Behindertenhilfe, die wegen des Wittekindshof-Skandals vom Sozialministerium eingesetzt wurde. Die Kommission hat bereits im Dezember 2021 ihren Abschlussbericht vorgelegt. Der 224-seitige Bericht ist Anlass zu einer "Landesinitiative Gewaltschutz", die am kommenden Dienstag, 27. September, in Düsseldorf vorgestellt wird. Garbrecht lobt den Wittekindshof für die Neustrukturierungen im Haus: Die Expertenkommission habe deutlich gemacht, wie wichtig es ist, Menschen mit herausforderndem Verhalten nicht an einem Standort unterzubringen, weil das Konflikte potenzieren könnte. "Das ist ein Konzept des vergangenen Jahrtausends", so Garbrecht. Zugleich habe es bisher landesweit aber kaum Alternativen für Angehörige von schwer zu betreuenden Menschen gegeben. Dass der Wittekindshof nun die Vorschläge der Kommission annehme und auf ihre gesetzliche Durchsetzung dränge, stimme ihn froh. "Ich schätze Starnitzke", sagte Garbrecht: "Aber Verantwortung bedeutet mehr als Bedauern." Garbrecht richtet den Blick aber auch auf das seiner Ansicht nach überdeutliche Organisations- und Aufsichtsversagen: "Immer, wenn Not am Mann war, waren alle froh, eine Einrichtung zu haben wie den Wittekindshof." Garbrecht fragt deshalb auch nach der Rolle des Kreises Minden-Lübbecke als Aufsichtsbehörde und des Auftraggebers, des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe. "Da kann man nicht einfach einen Schlussstrich ziehen.

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