Oerlinghausen

Der Südstadt-Deal

Wie es gelang, durch einen geschickten Tausch Sültemeiers Hof in einen modernen Stadtteil umzuwandeln. Der erste Ortsteil ohne Schornsteine entstand

Ratsversammlung: Ende der 50er Jahre fasste der Stadtrat wichtige Beschlüsse, um der Wohnungsnot in Oerlinghausen zu begegnen. Große Verdienste erwarb sich der damalige Bürgermeister Heinrich Kramer (hinten vor dem Bild stehend). Rechts neben ihm der spätere Bürgermeister Erich Diekhof. | © bi

03.08.2019 | 03.08.2019, 07:21

Oerlinghausen. Es war der Abend des 10. November 1958, der die Stadt Oerlinghausen mehr geprägt hat als jedes andere Datum in der Nachkriegszeit. An diesem nassgrauen Novembertag eröffnete Bürgermeister Heinrich Kramer eine Ratssitzung im Saal des Stadthotels und teilte den Ratsvertretern eine außerordentliche Neuigkeit mit: Der Landesverband Lippe und sein Vorsteher Heinrich Drake hatten in den Stunden zuvor einem ungewöhnlichen Tauschhandel zugestimmt.

Oerlinghausen bekam ein riesiges Sennegebiet im Süden der Stadt vom Hof Sültemeier übertragen – im Gegenzug erhielt Besitzer Sültemeier einen Ausgleich – die Domäne Dahlhausen. Der Hof Dahlhausen gehörte dem Landesverband Lippe und musste von Oerlinghausen deshalb gekauft werden. Einstimmig genehmigte der Rat den Tausch- und Kaufvertrag. Das war quasi die Geburtsstunde der Südstadt.

Wachstum: Noch im Aufbau ist die Südstadt im Jahre 1964. Vorne links sind die Fabrikhallen der Firma Gundlach zu sehen, die zeitgleich mit dem Bau der Südstadt entstanden. Repros: Horst Biere /Quellen: Stadtarchiv - © bi
Wachstum: Noch im Aufbau ist die Südstadt im Jahre 1964. Vorne links sind die Fabrikhallen der Firma Gundlach zu sehen, die zeitgleich mit dem Bau der Südstadt entstanden. Repros: Horst Biere /Quellen: Stadtarchiv | © bi

Warnend hatte sich der damalige Stadtdirektor Heinrich Kindsgrab allerdings zu den Kosten für die Bergstadt geäußert. Doch Bürgermeister Kramer und die meisten Ratsvertreter sahen in dem neuen Stadtteil eine absolute Notwendigkeit, um Wohnraum und auch Arbeitsplätze für die Oerlinghauser Bürger zu schaffen.

Der Hofbesitzer kam ums Leben

Auch für den 53 Hektar großen Hof Sültemeier bildete der Tausch einen Gewinn, denn auf dem kargen Sennesandboden trug sich der Hof schon lange nicht mehr. Adolf Sültemeiers Schwiegersohn August Westerheide, der die Verhandlungen geführt hatte, beschreibt in seinen Lebenserinnerungen, dass der landwirtschaftliche Betrieb Sültemeier nur durch Verpachtung von Sandabbau überlebensfähig war. Eine neue Situation war zudem eingetreten, als Hofbesitzer Adolf Sültemeier plötzlich ums Leben kam.

August Westerheide: „Mein Schwiegervater verunglückte tödlich am 20. März 1959. Ein englisches Militärmotorrad überfuhr ihn auf dem Stukenbrocker Weg, als er zu Fuß auf dem Heimweg vom Feld am Hellweg (heute Gundlach-Gelände) nach Hause war.“ Durch geschickte Verhandlungen gelang es Westerheide zudem, noch ein großes Gelände für ein eigenes neues Wohnhaus auf dem ehemaligen Sültermeier-Hof zu erhalten.

Moderne und abwechslungsreiche Bebauung

Aber durch das clevere Tauschgeschäft erwarb die Stadt Oerlinghausen so auf einen Schlag ein Areal, das das bisherige Stadtgebiet um fast 50 Prozent vergrößerte. Auch dank Bürgermeister Kramers guter Beziehungen zu seinem Freund Heinrich Drake gelang der „Südstadt-Deal“ und die Bergstadt bekam endlich ein dringend benötigtes Wohn- und Industriegebiet,

Mit Volldampf trieben die Stadtväter das Projekt „Südstadt“ voran. Unmittelbar nach der offiziellen Vertragsunterzeichnung vom 3. Februar 1960 beauftragte die Stadt den Aachener Hochschulprofessor Kühn mit der Planung und der brauchte lediglich fünf Monate, um dem Stadtrat die Pläne und Modelle zu präsentieren. Eine seinerzeit moderne und abwechslungsreiche Bebauung sahen die Planungen des Professors vor – angepasst an die hügelige Sennlandschaft. Eine Mischung aus Eigenheimen, Reihenhäusern und Mietwohnungen, mit mehrgeschossigen Hochhäuser wie mit Flachbauten. Die offizielle Grundsteinlegung nahm im April 1963 der damalige Stadtdirektor Otto Witt vor. In den Jahren 1963/64 war die ganze Südstadt eine riesige Baustelle.

Bürgerinitiative wehrt sich gegen zu hohe Heizkosten

Nicht nur Wohnhäuser entstanden in der Südstadt. Auch der graphische Betrieb Gundlach aus Bielefeld erhielt ein großes Firmenareal. So konnte das Bielefelder Unternehmen günstig expandieren, und auf Oerlinghauser Gebiet entstanden Hunderte von modernen Arbeitsplätzen.

Die Beheizung des gesamten Stadtteils galt damals als revolutionär. Ein zentrales Heizkraftwerk sollte für die nötige Energie zum Heizen und für warmes Wasser sorgen. „Fernwärme“ lautete die Zauberformel, durch die Oerlinghausen damals in der Liga der umweltfreundlichsten Städte aufstieg. Im Süden Oerlinghausens entstand ein Stadtteil ohne Schornsteine.

Neue Probleme sind entstanden

Doch wie es sich zeigte, hielten die Heizrohre bei weitem nicht, was die Techniker versprochen hatten. Denn hohe Abstrahlungs- und Energieverluste ließen die Heizkosten explodieren und sorgten in den Anfangsjahren für viel Ärger. Als Bürgerinitiative gegen zu hohe Heizkostenabrechnung gründete sich die Interessengemeinschaft Süd. Nur nach und nach gelang es, die Gemüter durch geschickte Verhandlungen mit der Firma Helios sowie auch durch modernere Rohrleitungstechnik zu beruhigen. Die IG Süd konnte sich endlich schöneren Aufgaben im Stadtteil zuwenden, Südstadtfeste, Nachbarschaftstreffen, soziale Aufgaben auf vielen Gebieten.

1988 feierte die Südstadt ein großes Jubiläumsfest zum 25-jährigen Geburtstag der Grundsteinlegung. Der damalige Vorsitzende der IG Süd, Hans-Werner Hartmann, stellte fest: „Die Südstadt ist den Kinderschuhen entwachsen. Die letzte große Bauphase an der Berliner Straße ist längst abgeschlossen. Jetzt gilt es, aus der Südstadt einen lebendigen Stadtteil zu machen.“ Damals lebten in der Südstadt etwa 5.000 Menschen, eingeschlossen die zirka 1.500 britischen Soldaten, die in den sogenannten Nato-Häusern (heute Conle-Siedlung) wohnten. Doch diese Soldaten sind seit langem abgezogen. Diverse neue Probleme sind im Südstadtbereich entstanden. Aber der Ratsbeschluss von 1958 war letztlich wohl eine der wichtigsten Entscheidungen des vergangenen Jahrhunderts.