Deshalb feiert Warburg: „Der Name Erd-Charta ist eine Verpflichtung“

Mit welchen Worten gratulieren Sie Warburg zum Zehnjährigen als Erd-Charta-Stadt? Christian Holtgreve: Herzlichen Glückwunsch zu der einstimmigen Entscheidung des Rates, vor zehn Jahren der Erd-Charta beizutreten. Allerdings hat das noch nicht zu einer umfassenden Selbstverpflichtung für eine nachhaltige Entwicklung unserer Stadt geführt. Valeria Geritzen: Herzlichen Glückwunsch, liebe Warburger, als Erd-Charta-Städterinnen und -Städter nehmt Ihr eine Vorreiterrolle ein, zu tun, was notwendig ist. Was bedeutet diese Auszeichnung für Warburg? Holtgreve: Diese &bdquo;Auszeichnung" ist ja selbstgewählt – und damit hat sich die Stadt verpflichtet, ihre Politik an den Kriterien einer ökologischen und nachhaltigen Entwicklung auszurichten. Geritzen: Auszeichnung im ursprünglichen Sinne ist nicht richtig. Der Name Erd-Charta-Stadt wurde der Hansestadt Warburg nicht als Auszeichnung verliehen, sondern bezeichnet eine Verpflichtung der Kommune, für ökologisch-solidarische Werte einzutreten. Der Stadtrat hat schon vor zehn Jahren einstimmig beschlossen, die Erd-Charta zu unterzeichnen. Das zeugt von einem hohen Bewusstsein, besonders aber von Verantwortung im Bereich Umwelt-, Klimaschutz und für die Menschen der Hansestadt. Das ist für mich ganz besonders wichtig. Hier in der Warburger Börde bemerken wir alle direkt, was ein regenarmer Sommer oder besonders heiße Hitzephasen für die Natur und insbesondere für die Ernte der vielen landwirtschaftlichen Betriebe bedeuten. Und für Sie ganz persönlich im Alltag? Was ist die Inspiration? Das Besondere? Holtgreve: Ich bemühe mich, mein Konsumverhalten an den Kriterien von Nachhaltigkeit und respektvollem Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen zu orientieren: kein Auto, gesunde Ernährung und Kauf von regionalen Produkten. Geritzen: Unbedingt der große Gedanke der Erd-Charta, dass alle Menschen dieser Erde eine Familie sind. Wenn es irgendwo auf der Welt schlecht läuft, dann wirkt sich das in einer globalisierten, vernetzten Welt auch auf uns aus. Zum Beispiel durch Fluchtbewegungen oder Verteuerung von Lebensmitteln vor Ort. Besonders tragisch ist das in den benachteiligten Ländern. Nur wenn wir als Weltgemeinschaft handeln und als Verbraucher verantwortungsvoll mit Ressourcen umgehen, bietet sich die Chance, die in westlichen Ländern herrschende verschwenderische Konsumkultur zu beenden. Nur so wahren wir die Chance, dass es genug für alle Menschen und für alle Zeit gibt. Wie kam es damals zur Bewerbung? Holtgreve: Es war keine Bewerbung, sondern mehrere Einzelpersonen ergriffen aufgrund ihrer Beschäftigung mit der Erd-Charta die Initiative, diesen Beitritt der Stadt zur Erd-Charta vom Rat zu fordern. Geritzen: Das offizielle Prozedere habe ich nur am Rande mitbekommen: Heiner Stiene organisierte eine Erd-Charta-Ausstellung in der Volksbank, daraufhin folgte der Antrag an den Stadtrat durch den damaligen Ratsherrn Christian Holtgreve. Als Warburg Erd-Charta-Stadt war, erinnere ich mich, wie mein Vater und ich auf unserem Anhänger einen aufgeblasenen Erdball durch Warburg transportiert haben, den anschließend viele Schülerinnen und Schüler auf dem Marktplatz hüpfen ließen. Gefeiert wird am letzten Juni-Wochenende und zwei Tage darüber hinaus: Welches sind für Sie die Höhepunkte? Warum? Holtgreve: Da gibt es keine Höhepunkte, sondern alle Aktivitäten sollen dazu beitragen, die Erd-Charta stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung zu rücken. Geritzen: Wir freuen uns ganz besonders darüber, dass Bürgermeister Tobias Scherf die Schirmherrschaft übernommen und Klaus Töpfer uns zur Auftaktveranstaltung zugesagt hat. Das unterstreicht und wertschätzt die Wichtigkeit der Erd-Charta-Arbeit vor Ort. Persönlich freue ich mich sehr auf das Podiumsgespräch und im Besonderen auf das Kulturprogramm während der Festtage. Abschließender Höhepunkt wird der Feierabendmarkt am Internationalen Erd-Charta-Tag, 29. Juni, auf dem Neustadt-Marktplatz sein. Warum ist dieser Titel so wichtig für Warburg und seine Zukunft – aber vor allem für die Menschen hier? Holtgreve: Die Ziele der Erd-Charta sind generell für alle Menschen auf diesem Planeten so wichtig, dass nur durch ein Befolgen dieser Ziele das Überleben der Menschheit möglich ist. Geritzen: Was bedeuten Titel? Titel werden nach außen getragen. Wichtig ist, was innen passiert. Aktive Erd-Charta-Stadt oder aktive Bürger einer Erd-Charta-Stadt zu sein, bedeutet, sich einer Aufgabe zu stellen. Werte zu leben, um die gesellschaftlichen Probleme lokal zu lösen und im besten Fall global positiv zu beeinflussen. Dazu gehört in erster Linie das kritische Betrachten der eigenen Entscheidungen in Verwaltungen, Unternehmen oder als Privatperson. Was antworten Sie den Menschen, die sagen: Das ist doch alles so weit weg, da kann ich hier vor Ort gar nichts verändern. . . Holtgreve: Sie erleben doch selbst jeden Tag, wie die Naturkatastrophen zunehmen, wie die Müllberge wachsen, die Luft in den Städten verschmutzt ist, Pflanzen- und Tierarten verschwinden. Das sollte Anlass genug sein, darüber nachzudenken, welchen Beitrag ich dazu leiste und wie ich mein Verhalten ändern könnte. Geritzen: Nachhaltige Entwicklung hierzulande hat direkte Auswirkungen auf Zustände anderswo. Blicken wir auf die Textilindustrie. Hier kommt es in Ländern wie Bangladesch oder Indien immer wieder zu größeren Umweltverschmutzungen aufgrund fehlender Rahmenbedingungen in der Massenproduktion. Es herrschen zudem vielerorts unwürdige Arbeitsbedingungen, die Produktion von Kleidung braucht extrem viel Wasser. In dem Moment, in dem sich die Nachfrage nach derart viel Kleidung verändert, ist gleich viel geschafft. Wenn wir die Qualität und nachhaltige Nutzung von Kleidung wieder in den Fokus unserer Entscheidungen rücken, verlängern wir durch unser Handeln den Lebenszyklus von Kleidung und wirken indirekt effektiv auf die gesamte Kette von Produktion bis Lieferung ein. Was kann also jeder von uns tun, um Verantwortung zu übernehmen und ganz praktisch nachhaltiger zu leben? Holtgreve: Das kann im ganz Kleinen anfangen: weniger Auto, mehr Fahrrad, heimische Produkte kaufen und keine Wegwerfprodukte, weniger Müll erzeugen, nachhaltige Kleidung und so weiter. Geritzen: Oft gehört, doch die Regel gilt: Der Konsument entscheidet! Im täglichen Leben ist es gar nicht so schwer, nachhaltig zu handeln. Bei Kaufentscheidungen haben wir ganz praktisch jedes Mal die Wahl. Jeder Konsum zählt. Und besonders jeder Bissen zählt. Auch alles, was auf den Teller kommt, hat einen CO2-Fußabdruck. Das ökologisch und klimaneutral produzierte Produkt mit kurzer Lieferkette ist vor Ort zu finden. Es bedarf nur eines etwas genaueren Hinschauens. Der CO2-Rucksack von Lebensmitteln, die hunderte von Kilometern auf der Autobahn unterwegs waren, bevor sie bei uns im Regal liegen, ist nicht nachhaltig. Warum hat man in Warburg in den vergangenen zehn Jahren so wenig daraus gemacht? Außer einem Schild am Schützenplatz . . . Holtgreve: Da muss sich jeder Ratsherr, jede Ratsfrau an die eigene Nase fassen und überlegen, was sie alles versäumt haben. Immerhin gibt es zwei Warburger Schulen, die ihren Schülern vermitteln, warum die Erd-Charta so wichtig ist. Geritzen: Die Unterzeichnung der Erd-Charta vor zehn Jahren war ein erster Schritt. Das bedeutet jedoch nicht, dass von heute auf morgen alles gut wird. Eine Initiative wie die Erd-Charta wird vom Engagement der Menschen belebt. Die Hansestadt ist eine Selbstverpflichtung eingegangen, die Bürger können die Mandatsträger stets daran erinnern. Das ist in den letzten Jahren immer wieder geschehen. Was gelegentlich sehr kleine Fortschritte bewirkte, manchmal aber auch sehr große. Die Erd-Charta ist keine Verpflichtung zum Handeln. Vielmehr geht es darum, das eigene Handeln unter Beachtung der Folgen abzugleichen und nachhaltig zu verbessern. Da ist nicht nur die Stadt gemeint, da sind wir alle gefragt. Unser neuer Bürgermeister zeigt sich sehr unterstützend. Wir freuen uns darüber sehr und sehen einer aktiven Zusammenarbeit entgegen. Warum ist Nachhaltigkeit von Bedeutung für uns alle heute – vielleicht sogar noch stärker als vor zehn Jahren? Holtgreve: Die zunehmende Erderwärmung, das Schmelzen der Gletscher und des &bdquo;ewigen" Eises, das Verschwinden der Regenwälder, das Artensterben und vieles mehr zeigen wohl deutlich genug, dass Handeln immer überlebenswichtiger wird. Geritzen: Nachhaltigkeit war vor zehn Jahren schon genauso wichtig wie heute. Heute ist das Thema aufgrund des spürbaren Klimawandels und der resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen endlich viel mehr in den Fokus gerückt. Wir dürfen schlichtweg nicht so weitermachen wie bisher, sonst verspielen wir sehenden Auges die Zukunft nachfolgender Generationen. Das ist egoistisch, unfair und verantwortungslos. Und, da die Frage ständig kommt, mit Verzicht hat ein nachhaltiges Wirtschaften nichts zu tun. Ein Wirtschaften, ausgehend von einem nachhaltigen Ressourceneinsatz als Maxime ist lediglich eine neue Herausforderung für die Gesellschaft. Wie können junge Menschen viel stärker das Leitbild der Erd-Charta mit ihren vier Säulen verinnerlichen – und letztendlich leben? Holtgreve: Es ist immerhin erfreulich, dass ganze Schülergenerationen mit ihren Schulstreiks für eine nachhaltige Entwicklung, also die &bdquo;Fridays for Future"-Bewegung ein deutliches Signal gesetzt haben. Es ist die Zukunft der jetzt jungen Menschen, die sie sich selbst gestalten müssen. Die ältere Generation hat ihnen ein schweres Erbe überlassen. Geritzen: Sich mit dem Leitbild der Erd-Charta auseinander zu setzen, ist nicht schwer. Der erste Schritt wäre, die Erd-Charta zu lesen. Dabei kann jeder sich und sein Handeln bereits selbst reflektieren. Danach geht es darum, sich Umsetzungsstrategien zu erarbeiten. Das sind kleine Dinge, die viele wahrscheinlich heute schon umsetzen, wie kein Shampoo mit Mikroplastik zu kaufen, plus erhältlich in Verpackungen aus recyceltem Plastik. Nach und nach und insbesondere durch den Austausch mit anderen werden sich die eigenen Werte und das Handeln verändern. Im besten Fall organisiere ich mich grundlegend dahingehend, dass ich mir das Ziel setze, meinen CO2-Fußabdruck deutlich zu senken. Fridays for Future hat in den vergangenen zwei Jahren durch ihr lautes Präsent-Sein sowie ihre Forderungen einiges bewegt. Eltern- wie Großeltern-Generationen wurden für die Sorgen der Jugend sensibilisiert und emotionalisiert. Eine Generationengerechtigkeit wird zu recht eingefordert. Daher darf sich diese Frage auch nicht nur auf junge Menschen beziehen, sondern sollte Motivation für alle Altersgruppen sein. Was wünschen Sie der Erd-Charta-Stadt für die nächsten zehn Jahre? Eine Verstetigung? Holtgreve: Ganz konkret: eine autofreie Innenstadt, eine klimaneutrale Energieerzeugung, Ausbau der Fahrradwege, mehr Bio-Produkte in den Geschäften, mehr Pflege für das Grün in der Stadt, weniger Papierverbrauch in der Verwaltung, Entsiegelung von Böden, dichtere Wohnbebauung, Photovoltaik auf den Dächern und vieles mehr. Geritzen: Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, konkrete Ziele im Klima- und Umweltschutz zu formulieren und zu erreichen. Dass wir es schaffen, den Ressourcenverbrauch darauf zu beschränken, nicht mehr zu verbrauchen, als uns die Natur zurückgibt. Aber am wichtigsten ist es mir, eine aktive solidarische Gemeinschaft in der Hansestadt zu erleben, die im Sinne der Erd-Charta Werte und Ziele zusammen ins Auge fasst, weiterbringt und lebt. Dafür ist viel Engagement nötig, dazu muss die Erd-Charta den Menschen in Warburg und den Ortschaften weiterhin nähergebracht werden. Auf viele Fragen müssen gute Antworten folgen. Ich hoffe, dass wir es schaffen, die Ideenwerkstatt Warburg erfolgreich fortzuführen, um Ideen und Initiativen von Menschen aus der Erd-Charta-Stadt aufzunehmen und möglichst zum Vorteil aller umzusetzen. INFO Warum die Erd-Charta so wichtig für die Menschheit ist Christian Holtgreve: Spätestens seit der großen UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro wissen wir, wie tief die Krise ist, in der sich die Weltgesellschaft befindet. Die Klimakrise und die Erderwärmung, das Artensterben, die Rodung des Regenwaldes, die Vermüllung der Ozeane, die zunehmende Wüstenbildung und das Schmelzen des &bdquo;ewigen" Eises, all das sind Vorzeichen einer drohenden Selbstzerstörung der menschlichen Gattung. Deshalb fanden sich zahlreiche Umwelt-Organisationen, engagierte Naturschützer und Umwelt-Politiker aus vielen Ländern zusammen, um eine ähnliche Erklärung wie die zu den Menschenrechten auch für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen zu formulieren. Aus diesen Bemühungen entstand die Erd-Charta, die seit dem neuen Jahrtausend, also ab 2020, in aller Welt von immer größerer Bedeutung wird. So hat die UNESCO sie als wichtigen ethischen Rahmen für eine nachhaltige Entwicklung benannt – und mehr als 40 Staaten haben die Erd-Charta als Leit-Dokument für ihre Politik erklärt. Valeria Geritzen: Die Erd-Charta beschreibt als Dokument einen ökologisch-solidarischen Way of life, der unter anderem einen verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen der Erde im Fokus hat und ein schlichtes sowie gleichzeitig großes Ziel verfolgt: Genug für alle, für alle Zeit. Die Erd-Charta ist aufgeteilt in vier Säulen mit jeweils vier Grundsätzen, es geht hier um grundlegende Einstellungen, wie zum Beispiel Achtung vor dem Leben (Säule 1) Absatz 1: &bdquo;Achtung haben vor der Erde und dem Leben in seiner ganzen Vielfalt. 1a: Erkennen, dass alles, was ist, voneinander abhängig ist und alles, was lebt, einen Wert in sich hat, unabhängig von seinem Nutzwert für die Menschen." Ich zitiere einen Grundsatz, um darzulegen, wie universell die Erd-Charta als Wertegerüst angelegt ist.

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