Ist die Deltavariante zu aggressiv oder impfen wir zu langsam?

Kreis Höxter. "Die Herdenimmunität werden wir nicht erreichen", befürchtet Jens Grothues, Allgemeinmediziner mit Praxis in Beverungen und ärztlicher Leiter des Kreis-Impfzentrums in Brakel. Das hat auch damit zu tun, dass eine Herdenimmunität den Prognosen zufolge nicht mehr bei 70 Prozent geimpfter Bevölkerung erreicht wäre. "Mittlerweile geht man von 85 oder sogar 95 Prozent aus", sagt Grothues. Ursächlich hänge das mit der Aggressivität des Virus' zusammen. Delta ist da einfach ein ganz anderes Kaliber als die früher vorherrschenden Varianten des Coronavirus'. Das Ursprungsziel 70 Prozent ist im Kreis Höxter derweil bald erreicht. Am Dienstag, 27. Juli, sind laut Kassenärztlicher Vereinigung Westfalen-Lippe 93.566 Menschen (rund 66 Prozent) im Kreis Höxter einmal und 78.451 Menschen (rund 56 Prozent) vollständig geimpft*. Hinzu kommen etwa Impfungen durch Betriebsärzte, die anders erfasst werden. So langsam wird die Luft allerdings auch spürbar dünner. Kinder unter zwölf Jahren können nach derzeitigem Stand nicht geimpft werden - allerdings vermutet Grothues, dass sich das künftig ändern könnte. Experten gingen außerdem davon aus, dass zehn Prozent der Erwachsenen nicht impfwillig seien. Derzeit führt Grothues, wie er sagt, viele Beratungsgespräche mit Jugendlichen zwischen zwölf und 15 Jahren, die eine Impfung erhalten können. Diese Altersgruppe mache mit 5.000 Personen rund drei Prozent der Einwohnerzahl im Kreis Höxter aus und ist deshalb eine wichtige Gruppe auf dem Weg zu einer wenigstens annähernden Herdenimmunität. Zwar sei ein schwerer Krankheitsverlauf bei den Jüngeren unwahrscheinlicher, aber die jungen Menschen trügen das Virus auch wieder zu den Älteren. In drei bis vier Wochen könnten alle geimpft sein Eine Impfaktion im Impfzentrum am kommenden Sonntag soll das Ganze zusätzlich in Fahrt bringen. Auch wenn es teils hohe Hürden gibt. "Bei Kindern müssen beide Eltern oder alle Erziehungsberechtigten mit einer Impfung einverstanden sein. Das heißt: entweder kommt die ganze Familie ins Impfzentrum oder es müssen unterschriebene Vollmachten vorliegen." Eine Regelung, die laut Grothues bei dem einen oder anderen alleinerziehenden Elternteil an die Grenzen stößt. Außerdem sei es vorgeschrieben, dass Kinderärzte die Beratung vor Ort übernähmen. Wie die Impfaktion angenommen wird, kann Grothues nicht einschätzen. Am Sonntag drauf soll aber ein weiterer Termin für die Jugendlichen reserviert sein. In drei bis vier Wochen, sagt Jens Grothues, könne dann jeder, der impfwillig sei, doppelt geimpft sein. Die Deltavariante wartet darauf allerdings nicht. "Mitte September könnten wir wieder bei Inzidenzen von 120 bis 150 liegen", sagt Grothues und stützt seine Aussage auf seriöse Prognosen. "Wir erleben aktuell, dass sich die Inzidenz alle 14 Tage verdoppelt", sagt der ärztliche Impfzentrumsleiter. Aktuell liegt die Inzidenz in Deutschland bei 14, zwei Wochen weiter könnte sie der Prognose zufolge bei 28 liegen, wieder zwei Wochen weiter bei 56, dann bei 112. Land-Stadt-Impfgefälle Dabei steht der Kreis Höxter im Impf-Vergleich sehr gut da. "Es ist ein gravierender Unterschied, ob auf dem Land geimpft wird oder in einem Plattenbau im Dortmunder Norden", sagt Grothues. Das hänge nicht nur mit Bildung, sondern auch mit dem persönlichen Erleben zusammen. Er nennt zum Beispiel ältere Mitbürger mit russischen Wurzeln, die in ihrer Heimat schlechte Erfahrungen mit Vorschriften vom Staat gemacht hätten. "Die wollen sich dann partout nicht impfen lassen - und das kann ich auch nachvollziehen." Anders sehe das in der muslimischen Community aus. Etwa in Köln habe es große Aktionen gegeben, die Imame empfahlen ihren Gemeindemitgliedern dabei die Impfung. Auch in Flüchtlingsunterkünften im Kreis Höxter sei Grothues mit Dolmetscher und Argumenten weit gekommen - auch wenn es teilweise sehr "mühsam" gewesen sei. Der Mediziner appelliert: "Wer sich jetzt nicht impfen lässt, der wird sich infizieren, vielleicht in diesem Winter, vielleicht im Frühjahr." Zum Annentag in Brakel will es das Impfteam laut Grothues noch einmal mit einer Impfaktion probieren, Menschen vom Corona-Schutz zu überzeugen. *Laut Kreis belaufen sich die korrekten Zahlen auf 96.601 Erstimpfungen und 81.589 Zweitimpfungen.

Meistgelesen