100 Jahre alte „Street-Photography“: Neue Ausstellung im Marta Herford

Kreis Herford. Reisen ohne Kamera sind heute kaum vorstellbar. Notiz- und Skizzenbuch, Erinnerungsmaschine oder dokumentarisches Werkzeug – die Kamera hat heute ihren festen Platz in der kulturellen Praxis. 1898 war die 1877 in Berlin geborene, von 1878 bis 1884 in Herford lebende Gabriele Münter mit ihrer Schwester Emmy zu einer zweijährigen Amerikareise aufgebrochen. Bei ihrer Rückkehr hatte die später als expressionistische Malerin und Mitglied der Gruppe &bdquo;Der Blaue Reiter“ bekannt gewordene Malerin 400 Bilder dieser Reise im Gepäck. Die werden erst allmählich entdeckt und sind jetzt erstmals in Herford zu sehen. Die Berliner Fotografin Kathrin Sonntag nahm diese Aufnahmen als Ausgangspunkt für die Arbeit an der Ausstellung &bdquo;Das reisende Auge“. Entstanden ist eine faszinierende Ausstellung zweier durch gut 100 Jahre getrennter Fotografinnen, mit Bildern voller Ähnlichkeiten und assoziativer Entsprechungen. Im zentralen Raum mit einem eigens von Sonntag an die späteren Malereien Münters angelehnten Farbkonzept stellt Sonntag (Jahrgang 1981) Münters kleinformatige auf Alu-Dibond &bdquo;modern“ gedruckten Bilder Fotografien aus ihrem eigenen, ebenfalls analog fotografierten, Archiv gegenüber. Entstanden sind assoziative Bildpaare, die den Blick darauf lenken, wie modern Münters Bilder, ihr Blick und die Kompositionen von Linien und Flächen noch heute wirken – obwohl das Fotografieren und das Fotografiert-Werden damals noch weitgehend unüblich und auch die Regeln, nach denen das neue Medium funktioniert, noch nicht definiert waren. Ganz zu schweigen, dass es bis weit ins 20. Jahrhundert dauern sollte, bis Fotografie als Kunst akzeptiert werden würde. Ebenso unglaublich scheint es, dass Münter ihre Bull’s Eye Kodak Boxkamera, eine der ersten Rollfilmkameras, die das mobile Fotografieren überhaupt erst möglich machte, erst während der Reise geschenkt bekam. Wie das Projekt zu seinem Namen kam Die 51 Bilder, die mit 43 Bildern Sonntags korrespondieren, zeigen Landschaften, Porträts, Menschen in Alltagsszenen, natürlich auch die mitreisende Schwester und die amerikanischen Verwandten. Damit erarbeitete sich Münter die klassischen Sujets wie Street-Photography oder Reportage. &bdquo;Aber nur einige wenige Bilder wurden später Vorlagen für Gemälde“, sagte Sonntag. Die Fotografien Münters waren lange weitgehend unbekannt und wurden erst Anfang der 2000er Jahre allmählich entdeckt. Ein 2006 erschienener Band zu Münters Amerikareise wurde für Sonntag zum Einstieg in Münters fotografisches Werk. Mit der Lupe tauchte sie in die Schwarzweiß-Fotografien ein und fotografierte sie ab. Aus den Bildern entstand die Projektion &bdquo;The Travelling Eye“, der die Ausstellung ihren Titel verdankt. Zu sehen sind überlebensgroße Details aus Münters Bildern. Die Projektion funktioniert doppelt: Sie macht Lust, die Münter-Bilder mit quasi detektivischer Neugier &bdquo;unter die Lupe“ zu nehmen, funktioniert aber auch als Beitrag zu den eher theoretischen Diskursen über Bildbetrachtung oder das fotografische Sehen. Auch eine persönliche Stimme Sonntag ist bekannt für ihre Installationen, die gefundenes und eigenes fotografisches Bildmaterial in einen räumlichen Dialog bringen. Um den künstlerischen Dialog zweier Fotografinnen geht es auch in der Dia-Installation &bdquo;Ein Bild“, für die sich Sonntag und Nina Hoffmann 81 Kategorien ausdachten, zu denen sie jeweils Bildpaare aus ihren Archiven heraussuchten. Dabei darf das Essen als Pflichtmotiv im Instagram-Zeitalter nicht fehlen. Es gibt aber auch Kategorien wie &bdquo;Ein Bild, das ich besser nicht gemacht hätte“, die ironisch mit dem Medium spielen. In einem essayistischen Text erzählt Kathrin Sonntag von ihren persönlichen Erfahrungen und der Begegnung mit Münters Fotografie. Zu hören ist der im blauen Raum in den Lippold-Galerien über Kopfhörer. Wer sich die Zeit zum Zuhören nimmt, kann dabei das Münter-Gemälde &bdquo;Zinnien mit Glücksschiffchen“ (1931) aus der Sammlung des Städtischen Museums betrachten. Dem einzigen Münter-Gemälde in der Ausstellung stellt Sonntag ihre Arbeit &bdquo;Blumen für Gabriele“ gegenüber. Der Blumenstrauß in der Vase nimmt das Bildmotiv auf.

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