Der Landrat im Interview: „Corona hat uns zusammenrücken lassen“

Herr Müller, das Jahr 2021 ist fast vorbei. Womit wird es Ihnen im Gedächtnis bleiben?JÜRGEN MÜLLER: In erster Linie natürlich mit Corona. Es hat schon turbulent angefangen mit der Frage: Wie bauen wir ein Impfzentrum auf? Am 8. Februar haben wir am Bustedter Weg eröffnet. Und ich werde nicht vergessen, wie es am Sonntag, 7. Februar, anfing mit dem Schnee. Am Sonntagmittag habe ich die Bürgermeister angerufen. Die Kommunen haben dann spontan Fahrdienste organisiert, und das ist auch ein Zeichen dafür, wie man hier im Kreis zusammensteht. Der Start im Impfzentrum hat trotz Schneechaos gut geklappt. Probleme gab es allerdings bei den Terminvereinbarungen, die damals noch über die Kassenärztliche Vereinigung (KV) gesteuert wurden. Ich weiß, es fällt schwer: Aber abgesehen von Corona – was waren aus Ihrer Sicht die bedeutendsten Ereignisse in 2021 für den Kreis?Da gibt es verschiedene Themen. Eines davon ist sicher ganz allgemein die Gesundheitsversorgung. Wir haben als Kreis viel unternommen, um Hausärzte bei uns anzusiedeln. Da war es schön, in diesem Jahr erste Erfolge zu sehen: zum Beispiel die Hausarztpraxis in der ehemaligen Sparkassenfiliale in Exter oder die allgemeinmedizinische Praxis in Vlotho. Da sieht man, dass unser Instrument, hier mit ein wenig Geld Anreize zu schaffen, funktioniert. Auch die Frage, wie wir die praktische Zusammenarbeit der beiden Krankenhäuser – des Klinikums Herford und des Lukas-Krankenhauses in Bünde – gestalten, hat uns beschäftigt. Als die Idee der Zusammenarbeit vor einigen Jahren entstand, habe ich oft gehört &bdquo;Das geht nicht“. Da muss man dann als Landrat manchmal nach dem Leitsatz &bdquo;Geht nicht, gibt’s nicht“ vorgehen. Denn bei vielen Themen ist es wichtig, anzufangen und auszuprobieren. Es ist überraschend, was dann häufig doch alles geht.Dann wieder zurück zur Pandemie: Was hat in diesem Jahr im Kreis Herford in Bezug auf die Pandemie-Bekämpfung besonders gut geklappt und was besonders schlecht? Wie schon gesagt: Die von der Kassenärztlichen Vereinigung gesteuerte Terminvergabe vor dem ersten Impfbetrieb im Impfzentrum in Enger hat nicht gut funktioniert. Aber der Betrieb an sich dann umso besser. Die ganze Impfkampagne und viele andere Herausforderungen in Zusammenhang mit Corona haben uns im Kreis zusammengeschweißt. Besser hätte es laufen können, als wir dann im November die Impfstelle in Enger wieder einrichten mussten. Eigentlich hatte ich mich schon im September an das Land NRW mit dem Vorschlag gewandt, das Impfzentrum doch im Standby-Modus zu lassen. Das wurde abgelehnt. Und im November mussten wir dann mit veränderten Strukturen und kreisweiten Impfstellen an den Start gehen. Zudem sind wir als Kreis – anders als zuvor – jetzt nahezu für das gesamte Personal zuständig – eine Ausnahme bilden die Ärztinnen und Ärzte, die über die KV organisiert werden. Diese Umstellungen haben den Ablauf natürlich etwas verzögert. Aber unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort haben einen guten Job gemacht. Welche Bilanz ziehen Sie in Bezug auf das Impfen im Kreis? Eine sehr positive. Wir haben aktuell eine Impfquote von rund 70 Prozent. Und da kommt das Impfen über die Betriebsärzte noch dazu. Dennoch wünsche ich mir, dass die Skeptiker noch einmal in sich gehen und sich doch für das Impfen entscheiden. Ich möchte, dass wir eine 80-Prozent-Quote erreichen.Sie haben in Ihrer Weihnachtsansprache um Verständnis füreinander in der belastenden Corona-Zeit geworben. Wie gehen Sie persönlich mit Menschen um, die die Krankheit offensichtlich leugnen und Falschmeldungen lancieren? Dafür habe ich ehrlich gesagt null Verständnis. Und wenn mich Informationen aus dieser Richtung erreicht haben, die strafrechtlich relevant sind – zum Beispiel über gefälschte Impfpässe – habe ich sie an die Kreispolizei weitergeleitet. Ich würde diesen Menschen den Rat geben, sich mit dem Pflegepersonal auf den Intensivstationen zu unterhalten. Die Belastung ist immens und das Pflegepersonal sieht ganz unmittelbar, welche Auswirkungen diese Krankheit hat. Die Berichte sind authentisch, aus erster Hand.Überall ist die Rede davon, dass Corona an sich und insbesondere die geplante Einführung einer Impfpflicht die Gesellschaft spalten. Was kann man dagegen tun? Lassen wir die Corona-Leugner einmal außen vor: Es gibt durchaus Menschen, die man immer noch mit sachlichen Argumenten überzeugen kann. Und das Schwierige ist, dass diese Menschen sich mittlerweile in eine Ecke gedrängt fühlen, in die sie eigentlich nicht gehören. Ich bin in diesem Zusammenhang der Meinung: Druck erzeugt Gegendruck. Da sollten wir vorsichtig sein mit denen, die wir noch überzeugen können. Wenn die öffentliche Diskussion so stark polarisiert, dann drängen wir Verunsicherte an den Rand der Gesellschaft. Welche Erlebnisse haben Sie im Jahr 2021 am meisten berührt? Als Landrat grundsätzlich die große Bereitschaft, sich zu engagieren. Es berührt mich, dass viele Menschen einfach machen. Die fragen nicht, ob Wochenende ist oder später Abend. Persönlich habe ich mich sehr gefreut, dass meine Eltern in diesem Jahr beide 85 Jahre alt geworden sind, meine Mutter im Mai und mein Vater im Juli. Beide sind noch fit. Im Mai war noch nicht so viel möglich, aber im Juli konnten wir im kleinen Kreis mit der Familie feiern. Das habe ich wirklich genossen. Und welche Ereignisse haben Sie vor die größten Herausforderungen gestellt? Im Spätherbst war das sicher die erneute Organisation des Impfens unter neuen Rahmenbedingungen. Was mich persönlich angeht, so habe ich versucht, Ruhe auszustrahlen – und zwar umso mehr, je hektischer es wurde. Ich glaube, das hilft am meisten. Neben Corona haben wir in diesem Jahr auch noch drei Haushalte beschlossen im Kreis – einen für dieses Jahr und einen Doppelhaushalt für 2022/23 – das ist eine wichtige Arbeitsgrundlage für die Zukunft. Ein bisschen was liegt ja noch an: Die Kooperation der Krankenhäuser möchte ich im kommenden Jahr abschließen, wir haben noch ein Berufskolleg in Löhne zu sanieren oder zu bauen – das August-Griese-Berufskolleg -, das Projekt Hospiz muss weitergehen und wir müssen uns fragen, wie wir die Mobilität im Kreis neu gestalten. Und dann gibt es da noch die geplante ICE-Trasse... Langeweile kommt also sicher nicht auf. Ganz Deutschland bereitet sich auf die Ankunft der gefürchteten Omikron-Welle vor. Wie ist der Kreis Herford gewappnet? Ja, wir haben uns vorbereitet, indem wir für die Bereiche der kritischen Infrastruktur schon frühzeitig Impfangebote sichergestellt haben. Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdienst – sie alle haben schon frühzeitig die erste Boosterimpfung bekommen. Auch die Stromversorger, die man häufig aus dem Blick verliert, sind zu berücksichtigen. Wir haben speziell für die Menschen, die bei der WWE die Leitstelle betreuen, Boosterimpfungen vermittelt – das sind sehr spezialisierte Leute, die im Ernstfall schwer zu ersetzen sind. Wir haben jetzt bereits über 100 Omikron-Fälle im Kreis. Wir müssen abwarten und dann flexibel reagieren. Mit welchen Gedanken und Gefühlen blicken Sie auf 2022? Optimistisch. Ich habe die Hoffnung, trotz Omikron, dass wir in 2022 in unserem gesellschaftlichen Leben nicht mehr so stark von der Pandemie beeinflusst sein werden wie im Moment. Ich schaue da auch auf den Verlauf der Spanischen Grippe, die von 1919 bis 1920/21 die Gesellschaft belastet hat – also vor fast genau 100 Jahren. Die ebbte auch nach zwei Jahren wieder ab – auch wenn man das natürlich nicht unmittelbar miteinander vergleichen kann. Mal sehen... Welche Aufgaben sind im neuen Jahr am drängendsten? Neben der Pandemie als erstes die Zusammenführung von Klinikum Herford und Lukas-Krankenhaus Bünde. Wir brauchen da noch den rechtlichen Rahmen und die notwendigen Beschlüsse. Ich möchte gerne, dass wir zum 1. Januar 2023 alles rechtlich abgesichert haben, was wir jetzt schon praktisch tun. Die zweite Aufgabe ist, dass wir es schaffen, junge Menschen in Richtung duale Ausbildung zu bewegen. Uns fehlen Nachwuchskräfte im Handwerk, im medizinischen Bereich und auch Fachkräfte für die Wirtschaft. Bei aller Digitalisierung – wir brauchen dringend Fachkräfte. Das wird eines der wichtigsten Themen der kommenden Jahre sein. Und wenn Sie für den Kreis Herford einen Wunsch frei hätten für 2022...? Naja, das wäre, dass Corona uns nicht mehr so stark belastet. Aber unabhängig davon: Ich wünsche mir, dass unser Miteinander, das wir hier im Kreis entwickelt haben, bestehen bleibt. Vielleicht ist das tatsächlich ein positiver Aspekt der Pandemie: Neben den Bürgermeistern sind auch Verbände, Handwerkerschaft, IHK und verschiedene Bereiche der Wirtschaft stark zusammengerückt. Ich wünsche mir, dass wir diesen Weg weitergehen – ganz unabhängig von Corona.

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