Herford

Wie ein Herforder Opfer-Anwalt mit dem Lügder Missbrauchsprozess umgeht

Anwalt Christian Thüner vertritt im Missbrauchsfall Lügde ein Opfer, das plötzlich zum Beschuldigten wurde. So geht er mit den Videos vom sexuellen Missbrauch um.

Nebenkläger: Christian Thüner ärgert, wie die Polizei beim Verhör vorgegangen ist. | © Ilja Regier

Ilja Regier
13.08.2019 | 13.08.2019, 14:47

Herford. In der Regel schüttelt Christian Thüner die Fälle am Abend einfach ab – obwohl er mit Mord und Totschlag zu tun hat. Bei ihm landen Schwerverbrecher, für die er als Strafverteidiger das Beste vor Gericht herausholen will. Der 54-Jährige ist ein erfahrener Anwalt. Er vertrat bereits Mandanten, die ihre Ehefrauen anzündeten und die schlafenden Eltern töteten. Was für ihn zählt: allein die Beweislage. Blutige und perverse Details bringen den Profi nicht mehr aus der Fassung. Im Fall Lügde ist das anders.

Derzeit läuft vor dem Landgericht Detmold der Prozess um den hundertfachen sexuellen Missbrauch von Kindern. Andreas V. (56) und Mario S. (34) sollen mehrere Jahre lang Minderjährige auf einem Campingplatz vergewaltigt und sie dabei gefilmt haben. Beide zeigen sich geständig. Unter den Opfern ist auch ein 23-Jähriger aus dem Kreis Lippe, den der Herforder als Nebenkläger vertritt. Der Vater des Mannes war ein Freund von Mario S.

Thüner war dabei, als das Gericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Videos der Missbrauchsfälle abspielte. Seinen Mandanten habe Mario S. ebenfalls missbraucht. Der Anwalt wusste, was ihn erwartete. „Trotzdem waren die Aufnahmen widerwärtig und ekelhaft", sagt Thüner. Ähnliche Filme bekam er schon reichlich im Laufe der Karriere zu Gesicht.

Die Abgebrühtheit der Täter schockt ihn

Routine kann so etwas jedoch gleichwohl nie werden. „Zum Glück haben wir auch andere Fälle." Niemand wollte sich jeden Tag mit solchen Aufnahmen beschäftigen. Wenn Kinder wie in Lügde Teil eines Prozesses sind, sei das jedoch für Thüner wegen ihrer Schutzlosigkeit immer eine besondere Situation. „Solche Verfahren ragen heraus."

Im Fall Lügde schockt ihn die Abgebrühtheit der Angeklagten und wie sie sich über die Opfer unterhielten. „Sie sprachen bei neuen Kindern wie von Frischfleisch." Zudem kritisiert er, dass der Begriff „Kinderpornografie" vor Gericht und in den Medien verwendet wird, was die Delikte verharmlose. Das sei falsch, weil Kinder solche Aufnahmen nicht wollen und dabei missbraucht werden. Neben den vielen Behördenpannen um Lügde ärgert ihn auch, wie die Beamten mit seinem traumatisierten Mandanten umgingen.

Zwei Polizisten hatten den 23-Jährigen im Mai als Zeuge vernommen. Thüner beschreibt ihn als einfach gestrickten Menschen. Im Laufe des Verhörs wurde aus dem Missbrauchsopfer ein Beschuldigter. Die Staatsanwaltschaft Detmold klagte den Mann an, er soll in einem Keller als 16-Jähriger mit einem unter 14-Jährigen sexuellen Kontakt gehabt haben, während Mario S. zuschaute.

Wie könnte das Urteil lauten?

Was erst später herauskam: Der Mann stand unter Druck. Mario S. drohte, ihn in ein Heim zu stecken. Der 23-Jährige hatte Angst vor Schlägen, falls er über die Vorfälle geredet hätte. Das Verfahren wurde letztlich eingestellt. Zuvor haben sich die Beteiligten vor Gericht anhand eines Mitschnitts einen Eindruck von den Umständen der Vernehmung gemacht.

Wie nw.de berichtete, legte Thüner eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim NRW-Innenministerium ein. „Die beiden Polizisten haben den Mann förmlich ‚gegrillt‘, ohne ihn über seine Rechte aufzuklären", sagt Thüner. Das sei ein Lehrbeispiel für den Polizeiunterricht, wie solch ein Verhör nicht funktionieren dürfe. Es gäbe klare Vorschriften, um genau solche Situationen zu verhindern. Bislang hat er keine Antwort von NRW-Innenminister Herbert Reul erhalten.

Weil das Verfahren gegen den 23-Jährigen lief, musste er nicht als Zeuge im Hauptverfahren Lügde aussagen. „Zum Glück ist ihm das erspart geblieben – er will nichts mehr mit dem Fall zu tun haben", sagt Thüner. Am Donnerstag, 15. August, wird der Prozess fortgesetzt. Wie könnte das Urteil lauten? Thüner will keine Prognose abgeben und legt sich dennoch fest: „Einen Freispruch gibt es nicht."

Information

Zur Person:

Thüner war während seines Jurastudiums und danach beim Stadttheater Herford tätig.

Er studierte an der Fachhochschule des Bundes während seiner Tätigkeit als Beamter beim Bundesnachrichtendienst (BND) und schloss als Diplom-Verwaltungswirt ab. Nach dem Fall der Mauer arbeitete er noch knapp zwei Jahre für den BND.

Schließlich konzentrierte sich Thüner auf die Rechtswissenschaften und ließ sich 2002 nach Auslandsaufenthalten in Großbritannien als Anwalt in Herford nieder. Mit seiner Kollegin Deborah Weinert hat er auch eine gemeinsame Kanzlei.

In seiner Freizeit spielt der der 54-jährige verheiratete Strafverteidiger Golf und ist Mitglied der Männerverbindung „Schlaraffia Ravensbergia".