Schloß Holte-Stukenbrock. „Wir sitzen auf einem Massengrab.“ Diether Wegener spricht einen kurzen, klaren Satz, der in seiner Wucht nicht zu übertreffen ist. Die Vögel zwitschern, in den Nähe toben Kinder, und wir sitzen auf Campinghockern mit einem Kaffee in der Hand – auf einem Massengrab in Stukenbrock-Senne. Manche der Toten haben einen Namen, hier und da liegt eine frisch geschnittene Rose vor einem Grabstein, blüht eine Tagetes.
Mindestens 16.000 sowjetische Kriegsgefangene sind hier im früheren Stammlager Stalag 326 unter uns begraben; manche Historiker sprechen von viel mehr, von bis bis zu 65.000. Wobei: Begraben ist wohl nicht das richtige Wort, die Leichen wurden entsorgt. Ihnen zum Gedenken wird eine Gedenkstätte gebaut werden. Diether Wegener aus Augustdorf und anderen ist wichtig: Denkt an einen Raum der Stille, des Innehaltens, für Gläubige aller Religionen – nicht nur an die Darstellung furchtbarer historischer Fakten oder ans richtige Marketing.
Denn: „Die Besucher hier werden sich dem stellen müssen, was sie hier hören und erfahren. Es verdauen müssen. In Ruhe noch eine Weile sitzen. Vielleicht ein Gesprächsangebot nutzen.“ Diether Wegener, der hauptberuflich als katholischer Diakon gearbeitet hat, lädt seit Jahren wöchentlich zu Meditationen auf das Gelände ein. Mal kommen sieben Leute, mal zehn. Er denkt viel über das nach, was Menschen anderen Menschen hier angetan haben, hat sich mit der Stalag-Geschichte beschäftigt. „Die Gefangenen wurden ja gar nicht als Menschen gesehen. Sie wurden vom Bahnhof Hövelhof hierher getrieben, haben versucht, in Erdhöhlen zu überleben. Haben Laub, Rinde und Gras gegessen. Die Wachleute haben sie verhungern lassen.“
„Wir müssen uns den Dingen stellen.Das heilt“
Das muss jeder hier in der Gegend gewusst haben, sagt Wegener, doch das Schweigen sei sicherlich deutlich vernehmbar gewesen. Auch die Kirchen hätten bis heute nichts zu ihrer Rolle gesagt, nichts aufgearbeitet.
Über viele Jahre waren das Lager und seine Historie kaum ein Thema in OWL. Vielen ist das Stalag immer noch unbekannt. Etwas in Gang kam durch den Besuch von Raissa Gorbatschowa und Hannelore Kohl 1989, dann durch die Gründung des Fördervereins der Gedenkstätte Stalag 326, später durch den Besuch des Bundespräsidenten Joachim Gauck und seine eindrucksvolle Rede.
Der Weg war eingeschlagen, das Stammlager wurzelt allmählich im Bewusstsein. Doch dass bei einer Gedenkfeier vor einigen Wochen kein Vertreter der Religionen anwesend war – für Wegener nicht zu erklären und nicht zu entschuldigen. Auch spirituelle Aufarbeitung an diesem „verwundeten Ort“ sei wichtig. „Wir müssen uns den Dingen stellen. Das heilt. Das heilt auch die eigene Geschichte, die der Familie, der Eltern und Großeltern. Deswegen braucht es einen interreligiösen Raum der Stille, an dem wir möglichst viele Herzen erreichen.“ Diese Überzeugung gründet auf seinen Erfahrungen mit den Meditationen hier. Der Platz auf dem weiten Rund vor dem Denkmal, einer Kreuzgruppe, ist für ihn eine Kathedrale ohne Grenzen. Ein stiller Platz trotz naher Autobahn, trotz Truppenübungsplatz, tobender Kinder und trotz Polizeischule nebenan. Ein Platz, „an dem man geerdet wird. Eine Insel.“ Auf einem Massengrab.
Regelmäßig kommen auch Elisabeth Montag, frühere Caritas-Geschäftsführerin, und Birgit Wiese zu den Meditationen. Sie alle erzählen hier heute von ihren eigenen Familiengeschichten – wie es auch die Besucher einer künftigen Gedenkstätte unweigerlich tun oder Fragen dazu stellen werden, dessen sind sie sich sicher. Elisabeth Montag ist es allerdings wichtig, dass nicht nur zurück-, sondern auch nach vorn geblickt wird. „Es geht um Zukunftsorientierung und Konfliktlösung.“ Ein Erinnerungsort weist den Weg in diese Zukunft. „Viele sagen: Wir können es nicht mehr hören. Doch wir können ja unser Wissen nicht in Kisten packen und dann ist es weg. Wunden, Verletzungen geben die Generationen einander weiter.“ Es gibt Angehörige, frische Blumen zeigen dies. Heilung könne nur langsam geschehen, ergänzt ihre Schwester Susanne. Birgit Wiese stimmt zu: „Wenn man die Stille auf sich einwirken lässt, ist ja zu spüren: Hier sind viele begraben.“ Dass diesen Empfindungen ein Platz in der neuen Gedenkstätte gewährt werde – das ist ihr Ziel.