
Rheda-Wiedenbrück. Niemals hätte Inge Bultschnieder damit gerechnet, „einen so hohen Orden zu bekommen - doch das war auch nie mein Antrieb“. Sie wollte und will helfen, engagiert sich seit 2012 für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen aus Südosteuropa, die in der Fleischindustrie tätig sind. Für ihre Verdienste wurde Bultschnieder vom Bundespräsidenten mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Ausgehändigt wurde ihr das von Landrat Sven-Georg Adenauer. Bultschnieder habe dafür gesorgt, „dass die Öffentlichkeit erfährt, was vielleicht viele gar nicht wissen wollten“. Mit voller Tatkraft, großer Entschlossenheit und erheblichem Zeitaufwand setze sie sich für Menschen ein, „die hier als preiswerte Arbeitskräfte in der Nahrungsmittelindustrie ihr Auskommen suchen“.
Der Auslöser dafür war vor zwölf Jahren die Begegnung der 51-Jährigen mit Katya Antonova, damals Werksvertragsarbeiterin bei Tönnies - auch wenn die Festredner das Unternehmen nicht namentlich nannten. Beide Frauen lagen im Krankenhaus. Bultschnieder hörte der „abgemagerten, erschöpften Bulgarin voller Angst“ zu, half ihr, nahm sie in ihrem Haus auf, „uneigennützig und nicht ohne finanzielles Risiko“, so der Landrat. Diese Begegnung habe zur Wende in Bultschnieders Leben geführt „und letztlich zu dieser Ordensfeier heute“.
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Interessengemeinschaft für besser Arbeitsbedingungen gegründet

Aufgerüttelt von den zu Tage getretenen Missständen, entsetzt und angefasst von der Lage der Werkvertragsarbeiterin sei Bultschnieder richtig in Fahrt gekommen. Sie gründete mit anderen 2013 die Interessengemeinschaft (IG) WerkFAIRträge und setzt sich für die Rechte der Arbeitsmigranten aus Südosteuropa ein - damals Werkvertragsarbeiter in den Subunternehmen der Fleischindustrie.
„Wir wissen alle: Es geht hier nicht um schöner Wohnen, sondern um Existenzsicherung und würdiges Leben“, so Adenauer. Er erinnerte an Aktionen der IG, deren Motor Bultschnieder war: von Informationsveranstaltungen über Petitionen bis zu Mahnwachen. Aufgerufen wurde zu sozialer Gerechtigkeit und bürgerschaftlichem Engagement zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und die Integration der Menschen aus Südosteuropa.
Die IG biete „dieser allein im Kreisgebiet Gütersloh mehrere tausend Menschen umfassenden Personengruppe praktische Hilfe in problematischen Lebenslagen“.
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Rumänische Werkvertragsarbeiterin setzt verzweifelt ihr Neugeborenes aus
Maßgebliche Impulse habe die Geehrte zur Einrichtung des Runden Tisches gegeben. An dem trafen sich Vertreter gesellschaftlicher Gruppen, Institutionen und der Fleischindustrie von 2014 bis 2016 fünf Mal. Danach gab es Beratungs- und Unterstützungsangebote für die Zuwanderer und ihre Familien, eingerichtet wurden die städtische Wohnraumkontrolle und eine Willkommensagentur.
2015 geschah eine Tragödie: Eine rumänische Werkvertragsarbeiterin setzte „in völliger Verzweiflung“ ihr Neugeborenes aus. „Viele schämten sich für unser Deutschland“, sagte Adenauer. Die Bundesverdienstkreuzträgerin kümmerte sich um die Frau, war mit ihr im Gericht, besuchte sie im Gefängnis, nahm sie nach der Haft bei sich auf.
„Längst nicht mehr im Verborgenen findet nun das Engagement von Inge Bultschnieder statt“ - und mit dem massiven Corona-Ausbruch im Juni 2020 bei Tönnies wurde die Berichterstattung rund um die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie international.
Wichtiger Beitrag zum Arbeitsschutzkontrollgesetz

Bultschnieder habe für eine Änderung des gesellschaftlichen Bewusstseins in dieser wichtigen sozialen Frage trotz mannigfacher Widerstände einen wesentlichen zivilgesellschaftlichen Beitrag geleistet, verwies der Landrat auf das Arbeitsschutzkontrollgesetz, das am 1. Januar 2021 in Kraft trat.
Seither dürfen große Fleischbetriebe in ihrem Kerngeschäft keine Werkvertrags- oder Leiharbeiter mehr beschäftigen. Ein Gesetz, das dazu beigetragen hat, die Bedingungen der Beschäftigten zu verbessern.
„Es ist gut, wenn Engagement auszeichnet wird“, sagte Adenauer. Aber: „Ist es nicht noch besser, wenn sich etwas ändert?“ Der Landrat wünschte Bultschnieder, dass ihr Elan lange erhalten bleibe „und dass wir alle gemeinsam zu Veränderungen kommen“.
„Wir haben Sie oft als sehr hartnäckig, aber immer fair erlebt“
Die 51-Jährige steht für „besondere Menschlichkeit, außergewöhnliche Hilfsbereitschaft, gelebte Uneigennützigkeit und für ein aufopferungsvolles ehrenamtliches Engagement über viele Jahre“, sagte Bürgermeister Theo Mettenborg. Sie habe großen Anteil an erforderlichen Änderungen im System der Subunternehmer.
Sie habe das Bewusstsein für Nöte der Mitbürger aus Südosteuropa geschaffen und die Diskussion zu diesem emotional schwierigen Thema geprägt. „Wir haben Sie oft als sehr hartnäckig in der Sache, aber immer fair im Gespräch erlebt.“ Der Bürgermeister nannte Bultschnieders Einsatz bemerkenswert, sie sei ein Vorbild.
Das ist sie für Matthias Spilling-Hasselhoff, der Bultschnieder für das Bundesverdienstkreuz vorschlug. Sie war ihm vor acht Jahren, als er nach Rheda-Wiedenbrück gezogen ist, aufgefallen. Mit ihrer Beharrlichkeit, Dinge zu benennen, habe sie ihn beeindruckt. „Ich habe Inge im Kampf gegen Goliath gerne unterstützt.“ Für ihn sei sie ein moderner Robin Hood, „ohne Bart und mit roten Haaren“.
Inge Bultschnieder: „Wir haben die Stadt gespalten“
Die Geehrte dankte Landrat und Bürgermeister für die schönen Reden über ihr Tun. „Hätten Sie das schon vor zehn Jahren erkannt, wäre mir einiges erspart geblieben.“ Sie dankte ihren beiden Töchtern, die ihr Handeln mitgetragen haben - „auch als viele fremde Menschen in unserem Haus waren, als Männer weinend im Wohnzimmer saßen und es manchmal kein Mittagessen gab, weil zu viel zu tun war“.
Bultschnieder nannte viele Unterstützer, beispielhaft Almuth Stork. Die Ärztin habe 2012 nicht gezögert, als die 51-Jährige sie um ihre Hilfe für Antonaova bat. „Und Katya ist die Frau der allerersten Minute - hätte sie nicht den Mut gehabt zu reden, wären wir heute nicht hier.“ Mut habe auch die Interessengemeinschaft gebraucht angesichts des Gegenwindes aus der Bevölkerung und der Fleischindustrie, die auch geklagt habe. „Wir haben die Stadt gespalten.“
Doch sei ein großes Ziel erreicht worden, habe es Verbesserungen für die Arbeitsmigranten gegeben, „auch wenn wir noch nicht vor Freude an die Decke springen“. Noch gebe es viel zu tun, beispielsweise gegen fürchterliche Wohnbedingungen. „Und wenn wir nicht am Ball bleiben, wird sich nichts ändern.“