Nach Tönnies-Lockdown im Kreis Gütersloh: Haben sich die Arbeitsbedingungen verbessert?

Kreis Gütersloh. Der Autor selbst nennt sie &bdquo;die Unsichtbaren“. Er meint die unzähligen Arbeitsmigranten, die unter teils menschenunwürdigen Bedingungen auf deutschen Baustellen, in Schlachthöfen, als Lkw-Fahrer oder als Reinigungskräfte in Hotels und Firmen arbeiten. Viele von ihnen werden systematisch ausgebeutet. Der freie Journalist und Autor Sascha Lübbe aus Berlin ist der Sache nachgegangen, hat sich auf die Suche nach dem Parallelsystem gemacht - und ist zu Recherchezwecken unter anderem in Rheda-Wiedenbrück gelandet. Seine Gespräche mit Arbeitern vor Ort und mit Bewohnern der Helfgerd-Siedlung in Verl-Sürenheide sind eingeflossen in seine Arbeit. Mit dem gedruckten Buch (&bdquo;Ganz unten im System“) ist er wenige Monate später nun zurückgekehrt in den Kreis Gütersloh. Jene Region, die 2020 durch den sogenannten &bdquo;Tönnies-Lockdown“ dafür sorgte, dass die enormen Missstände in der Fleischindustrie publik wurden. Die Lesung erfolgte auf Einladung vom Netzwerk &bdquo;Fair Arbeiten und Zusammenleben in Ostwestfalen-Lippe“. Lesen Sie auch: So soll die Ausbeutung von Arbeitsmigranten im Kreis Gütersloh gestoppt werden Kreis Gütersloh setzt auf Arbeitskräfte aus dem Ausland Drei Jahre nach Abschaffung der Werkvertragsarbeit in der Fleischindustrie wird damit Bilanz gezogen. Hat sich die Situation verbessert? &bdquo;Das ist der richtige Ort. Der absolut richtige Ort, um ihr Buch vorzustellen. Wir sind hier mittendrin in der Geschichte der Arbeitsmigration“, sagt Caritas-Vorstand Volker Brüggenjürgen. Er kennt die Entfernung zu den Problemzonen so genau wie kaum ein anderer. &bdquo;2,3 Kilometer entfernt von uns hat gleich die zweite Schicht bei Tönnies ihr Ende gefunden. 5.000 Arbeitsmigranten haben einen harten Arbeitstag erlebt.“ Der Blick geht von Wiedenbrück aus in die andere Richtung: &bdquo;7,9 Kilometer von uns entfernt gibt es ein großes Logistikunternehmen von Amazon. Dort werden 100.000 Pakte am Tag versendet.“ Auch der Glasfaser-Ausbau im Kreis Gütersloh werde in weiten Teilen von osteuropäischen Arbeitsmigranten erledigt. Frank Riedel von der Beratungsstelle Arbeit des Diakonischen Werkes Herford ergänzt: &bdquo;80.000 Menschen aus Osteuropa arbeiten in ganz OWL.“ Dazu kämen mehr als 10.000 Minijobber sowie Haushaltshilfen in der Pflege. &bdquo;Diese Gruppe ist überhaupt nicht quantifiziert. Aus politischer Sicht handelt es sich hier um einen blinden Fleck.“ Großer Arbeitsbetrug in der Baubranche Mit insgesamt 70 Arbeitsmigranten hat Autor Sascha Lübbe für seine Recherchen gesprochen, 40 davon aus der Baubranche. &bdquo;Das fand ich persönlich am schlimmsten“, hier erfolge aus seiner Sicht der größte Arbeitsbetrug. Er war zu Gast in einem Arbeiterwohnheim in Frankfurt mit 800 Wohneinheiten. &bdquo;Alles Männer, alle arbeiten für den Bau, alle aus Rumänien.“ Er hat aber auch Privatwohnungen erlebt, die mit zwei Zimmern an insgesamt sieben Osteuropäer vermietet wurden zu je 350 Euro pro Monat. Das sei klar verboten, finde aber trotzdem statt. &bdquo;Weil es schlicht zu wenig Kontrollen gibt.“ An der Seite eines Zollbeamten hat Lübbe Razzien auf Baustellen erlebt und dabei erfahren: &bdquo;Hier werden alle betrogen.“ Es werde nicht schwarz, sondern grau bezahlt, &bdquo;Zehn Stunden offiziell und für die restlichen sechs Stunden bekommen die Arbeiter einen Umschlag zugesteckt.“ Lübbe zitiert einen Zollbeamten: &bdquo;Jede Baustelle in Deutschland ist von Organisierter Kriminalität betroffen.“ Falsche Versprechungen für Arbeitsmigranten Und in Rheda-Wiedenbrück? &bdquo;Es war ein langer Weg, bis Clemens Tönnies vor die Tür getreten ist und versprochen hat, dass sich etwas ändern wird“, erinnert Brüggenjürgen. Es hat sich verändert, vieles ist besser geworden. In dieser Einschätzung sind sich die Experten einig und auch die Recherchen von Sascha Lübbe belegen das. Gut ist es deshalb nicht. Eugen und Petre kommen aus Rumänien und haben dem Autor Lübbe berichtet, wie sie nach Verl-Sürenheide gekommen sind, welche falschen Versprechungen ihnen gemacht wurden und warum sie sich plötzlich in einem Schlachthaus wiederfinden, aus dem es zunächst keinen Ausweg gibt. Konstantin Pramatarski vom Fachdienst Werkvertragsberatung kennt solche Geschichten. Sie wiederholen sich hundertfach, tausendfach. Auch heute noch. &bdquo;Ich möchte an uns alle appellieren - und an mich selber auch - ,dass wir uns nicht an diese Geschichten gewöhnen.“ Frank Riedel ergänzt: &bdquo;Die unglaubliche Isolation der Menschen macht mich betroffen. Arbeitsmigranten leben wie unter Verschluss.“ Die 80.000 Arbeitsmigranten in OWL sichern zu Mindestlohn-Preisen ganze Wirtschaftsstandorte in der Region. Viele Betriebe in OWL sind auf Arbeitsmigranten angewiesen Ohne sie liefe in vielen Betrieben rein gar nichts. &bdquo;Wir führen eine öffentliche Migrations-Abwehr-Debatte, aber wir haben Hunderttausende unter uns, die für unseren Wohlstand schuften“, sagt Caritas-Vorstand Brüggenjürgen. &bdquo;Volker, habt ihr keine Polin?“, es sei scheinbar ganz normal, dass er von Menschen, die eine Pflegekraft suchen, so angesprochen werde Lesen Sie auch: Neue Unterkunft im Kreis Gütersloh soll weniger Geflüchtete aufnehmen Menschen suchen Menschen, die sie zu Billigtarifen rund um die Uhr einsetzen können. Es gibt noch viel zu tun. Ein Verbandsklagerecht zum Beispiel, das der DGB seit Jahren fordert. Es scheitere bislang am Widerstand der Arbeitgeberseite. &bdquo;Wir brauchen ein europäisches Unternehmensregister, damit wir Betrug nachvollziehen können, erklärt Annelie Buntenbach, ehemaliges Mitglied des Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). &bdquo;Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn wenigstens bei der öffentlichen Auftragsvergabe nach Tarif gezahlt würde.“ Der einzige Weg, so Buntenbach, führe ihrer Meinung nach über die Beratung der Arbeitsmigranten. Der Kampf um den Erhalt dieser Beratungsstellen steht der Zielrichtung entgegen. &bdquo;Die Beratungsstelle hier im Haus der Caritas in Wiedenbrück wird zum 31. Dezember 2024 schließen“, erklärte Volker Brüggenjürgen. Es sei nicht mehr gelungen, ausreichend finanzielle Mittel zu bekommen.

Meistgelesen