Warum Medien aus aller Welt während des Tönnies-Gaus mit ihr sprechen wollten

Rheda-Wiedenbrück. Mitte April 2020 sorgte sich die Interessengemeinschaft (IG) "Werkfairträge" in einem Leserbrief um die Gesundheit der Werkvertragsarbeiter, die eng an eng in Kleintransportern zum Fleischwerk Tönnies gefahren würden und in "katastrophalen Wohnzuständen" lebten. Zwei Monate später päsentierte Inge Bultschnieder von der IG mit Mitstreitern das Buch &bdquo;Das Schweinesystem, Aufhebung der Werkverträge und des Subunternehmertums!". Fast zeitgleich kam es zum Corona-Ausbruch bei Tönnies. "Das war doch ein Zufall, den es gar nicht gibt", meint die Rheda-Wiedenbrückerin im Rückblick. Vor einem Jahr war sie als Schulbegleiterin beschäftigt. Eine Kollegin fragte sie in der Pause, ob sie schon von den Vorgängen bei Tönnies gehört habe. "Und dann ging alles so schnell, so schnell kann man gar nicht gucken." Pressevertreter umlagerten das Haus der Frau, die sich seit neun Jahren der Probleme der Werkvertragsarbeiter annimmt. "Im Wohnzimmer hatte ich die Washington Post, meine Töchter wimmelten andere Journalisten an der Tür ab." So ähnlich ging es Tag für Tag. Der dänischen Tageszeitung Politiken beispielsweise gab sie ein Interview am Eingang zum Straßenverkehrsamt. Andere internationale Medien wie das japanische Fernsehen oder die britische BBC hatten ebenso Fragen an Bultschnieder wie deutsche Journalisten. Irgendwann meldeten sich Nachbarn: Ob die 49-Jährige überhaupt noch zum Essen komme? Fortan kochten sie für sie. "Das zeigt das Chaos dieser Tage" Gerne hätte Bultschnieder die vielen Presseanfragen delegiert, "aber Korbinian war schon weg und bei Almuth Stork haben sich, obwohl ich sie darum gebeten habe, nur wenige Journalisten gemeldet". Sie schätzt, dass sie rund 70 Interviews gegeben hat, eines fürs Radio auch beim Wäsche aufhängen im Garten. Das beste Foto sah sie in der Wochenzeitung Die Zeit: In ihrer Küche vor großen Geschirrbergen. "Das zeigt das Chaos dieser Tage." Ihren Laden Knusperhaus hatte die Rheda-Wiedenbrückerin vorübergehend geschlossen. "Ich hatte das Bedürfnis, am ganz großen Rad zu drehen, damit sich für die Werkvertragsarbeiter endlich etwas zum Besseren verändert". Doch im Juli konnte Bultschnieder nicht mehr, fühlte sich nah an einem Burnout. Sie schnappte sich ihr Fahrrad, packte Zelt und Schlafsacke darauf und machte sich auf den Weg nach Schwerin. Doch selbst unterwegs erreichten sie Anrufe. "Ich hatte das Handy wegen der Kinder ja an und wollte damit auch Fotos machen." Eine Anfrage kam vom Morgenmagazin. Das Team reiste zu der 49-Jährigen nach Lauenburg, ließ sie aber erst mal zu Ende frühstücken, bevor es mit den Fragen losging. "Das war dann der beste Dreh in all den Wochen: Aus den fünf Minuten wurden glatt zwei Minuten gesendet." Anfrage von Oliver Pocher abgelehnt Nicht alle Interviews und Berichte hat Bultschnieder gelesen oder gesehen. Mancher Beitrag aber hat die Rheda-Wiedenbrückerin irritiert, mancher auch frustriert - "weil bei einem Dreistunden-Dreh nur ganz wenig rumgekommen ist". In eine Talkshow ist sie nicht gegangen. Eine Anfrage von Oliver Pocher hat sie abgelehnt, nachdem sie ihn im TV als Clemens Tönnies verkleidet an einem Bauzaun in Verl gesehen hatte. "Das war nicht witzig, da wurden die Menschen verschaukelt, in den Zusammenhang will ich nicht gebracht werden." Ein Anruf erreichte Bultschnieder, den sie als grenzüberschreitend empfand, auch: "Hi Inge, hier ist Alice." Dabei hatte die Rheda-Wiedenbrückerin noch nie Kontakt mit der Herausgeberin der Zeitschrift Emma. Einer Redakteurin berichtete sie von ihren Erfahrungen mit Werkvertragsarbeitern. Das brachte ihr eine Unterlassungserklärung des Unternehmens Tönnies ein. "Das habe ich erfahren, als ich aus Schwerin zurück kam und den Brief fand - da war die gesamte Erholung wieder weg." Die 49-Jährige fing direkt an, Beweismaterial für ihre Aussagen zu sammeln, "um auf der sicheren Seite zu sein, denn wenn man etwas zu Tönnies sagt, steht man immer mit einem Fuß im Gefängnis, weil Klagen drohen". So weit ist es aber nicht gekommen. Die Emma hatte einige Zitate aus der Online-Version zurückgezogen. "Bis heute ist dann nichts weiter gekommen, auch nicht zu einem Medienanwalt, der mir geholfen hat." "Dass ich hätte heulen können" Heute, ein Jahr nach dem Corona-Ausbruch bei Tönnies erreichen Bultschnieder noch immer Presseanfragen, aber nicht mehr so zahlreich. Die Journalisten wollen wissen, wie es jetzt aussieht für die Arbeitsmigranten. Da stecke das DGB-Projekt "Faire Mobilität" viel tiefer drin, meint die 49-Jährige. "Ich selbst habe wohl schon damals nur die Spitze des Eisbergs gesehen und das war schon so schlimm, dass ich hätte heulen können." Was sich inzwischen wirklich verändert hat, kann Bultschnieder nicht sagen. Sie ist aber froh, "dass dem Thema weiterhin sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet wird".

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