Liebe Gütersloher, stellen Sie sich vor, Sie sind ein Reh in der Silvesternacht

Gütersloh. Lieber Gütersloherinnen und Gütersloher. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Reh. Ihr Tagesrhythmus ist im Winter recht überschaubar - Revier ablaufen, Nahrung finden, wiederkäuen, dösen. Und das etwa alle zwei Stunden. Dabei dann möglichst Menschen mit Hunden aus dem Weg gehen. Denn die riechen nicht nur streng, sondern werden auch noch immer mehr und sind eine echte Gefahr für Sie. Seit ungefähr zwei Jahren scheint wirklich jeder Mensch einen Hund haben zu müssen. Woran das wohl liegt? Normalerweise sind Sie Einzelgänger, aber im Winter tun Sie sich mit ein paar Artgenossen zusammen. Es ist wie abends auf dem Weihnachtsmarkt: in Gesellschaft friert es sich besser. Die Brombeerblätter schmecken langsam fad, aber immerhin ist das besser als nichts in den Mägen zu haben. Sie stehen gerne mitten auf dem Feld am Gütersloher Stadtrand, damit Sie die Gefahr aus jeder Richtung sehen können. Hund von links, Traktor von hinten, immer dabei ist ein Mensch. Ständig, immer auf der Flucht, rennen Sie von einem Ort zum anderen. Sie sind ja auch ein Fluchttier, das ist Ihre Natur. Aber zum Glück ist es Nacht, da gibt es meist keine Menschen hier draußen und Sie können sich endlich etwas ausruhen. Und plötzlich, Sekunden nach Mitternacht, gibt es einen großen Knall. Dann der Nächste und wieder der Nächste. Ein Zischen. Dann ein schriller Ton. Panik bricht im Wald aus. Wieder ein Knall. Der Himmel brennt. Er leuchtet in allen Farben. Gefahr von oben! Wohin fliehen? Das muss Ihr Ende sein! Corona hat bewirkt, dass in Gütersloh Bräuche hinterfragt werden Seit zwei Jahren gibt es stets die Diskussion, ob Feuerwerkskörper noch verkauft und gezündet werden dürfen. Die Zeit der Corona-Pandemie hat es leichter gemacht, Einschränkungen hinsichtlich der Nutzung von Raketen und Böllern in der Silvesternacht durchzusetzen. Anmsammlungsverbot, Verkaufsverbot. Hauptsache das Virus wird eingeschränkt. In diesem Jahr aber verzichtet die Stadt Gütersloh wieder auf Verbote. Corona hat bewirkt, dass wir selbst traditionelle Bräuche hinterfragen konnten, ohne dafür verurteilt zu werden. Jetzt wirkt es aber so, als wären all die Einwände, die in den Debatten der letzten Jahre aufkamen, vollkommen in Vergessenheit geraten. Dazu zählen unter anderem eine starke Lärmbelästigung für wilde Tiere und Haustiere und die starke Umweltverschmutzung, die noch Tage nach dem bunten Spektakel beseitigt werden muss. "Ich war das nicht!" Es fühlen sich nur wenige verantwortlich für den Müll, der außerhalb ihres Grundstücks liegt. Dabei sind sie diejenigen, die ihn hochgeschossen haben. Für einen einzigen Knall ballern sie Müll in die Welt. Ein Verzicht auf das Böllerverbot ist der leichteste Weg Man könnte dem entgegensetzen, dass nach einem solchen Jahr wie 2022 ein bisschen Spaß verträglich wäre. Die Scheinheiligkeit mit der wir unsere Natur behandeln, ist gerade deswegen offensichtlich. Was mit der Natur in der Silvesternacht nicht nur in Gütersloh passiert, interessiert zunächst niemanden. Erst beim Neujahresspaziergang ist sie wieder wichtig. Dabei zählt nichtmal, ob der eigene Hund eine traumatische Nacht hinter sich hat und wie viele andere Tiere befürchtete, dass die Welt untergeht. Dass die Stadt Gütersloh ein Verbot vermeidet, ist der leichteste Weg, um die Masse zufrieden zu stellen. Dabei hat sie aber eine große Chance zum Wohle der Umwelt vertan. Nie war es so leicht, ein bereits bekanntes Verbot aufrecht zu erhalten. Die Gewöhnung bei der Bevölkerung, an Silvester weniger oder gar nicht zu böllern, ist bereits eingetreten. Nun aber kehrt Gütersloh zur vermeintlichen Normalität zurück. Es ist aber eine seltsame Normalität, die ersten Stunden des Jahres mit explodierendem Müll zu beginnen und nicht einmal an die Folgen zu denken. Sind wir nicht mittlerweile schon einen Schritt weiter? Brauch hin oder her, etwas zu hinterfragen hat noch nie geschadet. Zurück zu Ihnen als Reh. Nach einer Nacht voller Angst und Fluchtversuche, ohne wirkliche Ruhephase, stehen Sie wie paralysiert auf dem Feld. Seit ein paar Stunden ist es verräterisch still. Erst einmal hinlegen. Oder doch nicht? Denn da kommt schon wieder etwas auf Sie zu. Zwei Menschen laufen den plattgetretenen Weg am Feld entlang. Neujahrsspaziergang. Dann zeigt einer von ihnen auf und ruft begeistert: "Guck mal, ein Reh!" Ja, Sie sind in der Tat ein Reh. Und völlig fertig mit der Welt.

Meistgelesen