"Weihnachten berührt innerste Sehnsüchte" - Dialog mit Pfarrerin Heine zum Fest

Jeanette Salzmann schrieb am Do., 9.12., 21.30 Uhr:Liebe Wiebke, ein Bewohner aus der städtischen Unterkunft Doheermannshöhe hat mir heute eine Nachricht gesendet. Er schildert eine Begebenheit und schreibt:&bdquo;Es gibt noch Wunder!" Wann hattest du zuletzt das Gefühl, ein Wunder erlebt zu haben? Oder wundert dich nichts mehr – weil du an Gott glaubst? Wiebke Heine, Fr., 10.12., 8.21 Uhr:Liebe Jeanette, wenn du wüsstest, was mich alles wundert...Aber ich vermute mal, so hast du die Frage nicht gemeint. Nein, ein Wunder, wie z.B. in den vielen neutestamentlichen Heilungsgeschichten beschrieben, habe ich noch nie erlebt – schade eigentlich. Dennoch erlebe ich täglich viel Wunderbares, das muss gar nicht spektakulär sein. Und das bezeichne ich auch bewusst nicht als &bdquo;schön" oder &bdquo;nett", sondern eben als &bdquo;wunder-bar", weil in diesem Begriff für mich die Ahnung – und manchmal auch die Gewissheit – mitschwingt, dass Gott in meinem Alltag wirkt. Wenn ich das weiterdenke, dann wundert mich in diesem Sinne tatsächlich nichts mehr. Als Christenmensch lebe ich von und mit der Hoffnung, dass Gott mich in meinem Leben begleitet. Ich will dir gar nicht verschweigen, dass ich mir das nicht immerzu bewusst mache, aber ganz tief in mir ist diese Hoffnung fest verwurzelt und lässt mich mit den Brüchen des Lebens– auch meines eigenen – umgehen und fertig werden. Was, liebe Jeanette, gibt dir Hoffnung? Jeanette Salzmann, Fr., 10.12., 18.04 Uhr:Das Arbeiten in einer Redaktion trägt dazu bei, dass man tagtäglich umgeben ist von Weltuntergangsberichten. Alles wird immer schlechter, immer teurer, immer krimineller, immer unzuverlässiger. Dazu das ständige Gemecker über alles und jeden. Demnach müssten wir längst auf einem Tiefpunkt des gesellschaftlich funktionierenden Lebens angekommen sein. Sind wir aber nicht. Wenn ich frühmorgens mit dem Hund bei mir zuhause durch die Felder streife, dann ist da nichts von all diesen schlechten Nachrichten und diesem destruktiven Gedankenstrudel, in den man nur allzu schnell hineingerät. Dann stelle ich fest: Natur ist glücklich. Und Natur macht glücklich. In einer positiven Umgebung kann man das Negative abschütteln. Das gelingt zwar nur zeitweise, aber dafür immer wieder. Und das macht mir Hoffnung. Ich glaube, das ist ja auch der Grund, warum wir Weihnachten als positives Gefühl so sehr mögen, weil wir all das andere negative Zeugs vor diesem Hintergrund vergessen können. Oder was meinst du, warum macht uns die Weihnachtszeit jedes Jahr so happy? Wiebke Heine, Fr., 10.12., 20.56 Uhr:Ja, Weihnachten ist ziemlich konkurrenzlos unter den anderen Festen, was das &bdquo;happy-machen" angeht, da stimme ich dir sofort zu. Sieht man auch schon daran, dass es bereits ab dem frühen Herbst Spekulatius und Dominosteine als Vorboten von Advent und Weihnachten zu kaufen gibt...Vielleicht liegt das weihnachtliche Glücksgefühl ja darin begründet, dass kein anderes Fest unsere innersten Sehnsüchte so stark berührt wie das Weihnachtsfest? Weihnachten bringt uns, so vermute ich, Jahr um Jahr mit unserer Sehnsucht nach heilem, gelingendem Leben in Berührung. Einem Leben, in dem nicht das Vordergründige zählt, in dem nicht nach Hörensagen abgeurteilt und mit dem ersten Blick das vernichtende Urteil gesprochen wird: So einer bist du also. Und ich glaube, dass Weihnachten uns auch mit unserer Sehnsucht nach einem gerechten Leben in Berührung bringt. Einem Leben, in dem auch die Schwächeren und Langsameren eine Chance haben, einem Leben, in dem die Menschen einander verstehen, ohne ständig auf die Unterschiede zu pochen: ich hier oben, du dort unten. Unser Leben trägt in sich die Sehnsucht nach etwas Neuem, nach Unverbrauchtem, nach neuen Chancen und Änderungen, die Sehnsucht nach einem Leben, das nicht die Spuren des Vergangenen an sich trägt. Weihnachten, so denke ich, erinnert uns Jahr um Jahr an unsere Hoffnung, das Leben einmal klar zu sehen – ohne alles Zwielichte und Zweideutige. Ich bin ziemlich sicher, dass dieser Wunsch allen Menschen zu eigen ist – egal, ob sie glauben, dass das Kind, dessen Geburt wir an Heiligabend feiern, wirklich der Sohn Gottes ist. Das ist die eine Seite der Medaille &bdquo;Weihnachten" – die menschlichen Sehnsüchte. Die andere Seite aber ist das wirklich Wunderbare (jetzt sind wir wieder beim Thema Wunder): Gott ist in diesem Menschen Jesus zu uns gekommen. Warum ist Gott Mensch geworden? Für mich legt der Kirchenvater Augustinus eine Spur. Er hat einmal gesagt: &bdquo;Die Sehnsucht Gottes ist der Mensch." Das spricht mich an: Nicht nur wir Menschen haben Sehnsucht nach all dem, was ich gerade beschrieben habe, sondern auch Gott kennt dieses Gefühl. Nur gilt seine Sehnsucht nicht sich selbst, sondern uns. Dir und mir und allen anderen auch. Kannst du, liebe Jeanette, mit diesem Gedanken etwas anfangen? Jeanette Salzmann, So., 12.12., 11.59 Uhr:Ich habe mir einen Tag Zeit gelassen, damit ich mit etwas Abstand deine Interpretation noch einmal lesen kann. Mich hüllen solche Worte schnell ein. Sie entfachen ihre volle, wohltuende Wirkung – solange ich sie nicht noch einmal auf meinen persönlichen Prüfstand stelle. Wir Menschen sehnen uns nach Gott, Gott sehnt sich nach dem Menschen. Du kennst den Spruch: Das Gras ist grüner auf der anderen Seite. Wir wollen immerzu das, was wir nicht haben, das sein, was wir nicht sind. Ich fürchte, selbst an Weihnachten schielen wir auf die Geschenke der anderen und werden eher neidisch als dankbar. Gleichwohl gebe ich dir recht, dass es wohl eine Sehnsucht nach heilem Leben gibt. Aber warum, Wiebke, schaffen wir Menschen es nicht, mehr von diesen Berührungen mit dem Guten in uns zu leben? Warum scheint sich dieser kurze Zauber nach Weihnachten so schnell aufzulösen? Vielleicht, weil wir Harmonie in Wahrheit gar nicht aushalten, weil sie uns langweilt? Wiebke Heine, So., 12.12., 22.02 Uhr:Man kann schlechterdings nicht 365 Tage im Jahr &bdquo;Drei Nüsse für Aschenbrödel" gucken und dauerhaft würde die &bdquo;Kleckerei in der Weihnachtsbäckerei" wohl auch die Geburt Jesu Christi, vor allem aber sein Leben und Wirken, mit Zuckerguss verkleben. Deshalb bin ich eigentlich ganz erleichtert, dass der Zauber von Weihnachten nur ein punktueller ist. Denn der &bdquo;holde Knabe im lockigen Haar" ist erwachsen geworden und zu einem Menschen geworden, der nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern auch uns bis auf den heutigen Tag durchaus unbequeme Botschaften mit auf den Weg gegeben hat. Vor zwei Jahren bin ich auf diese Worte des Journalisten Arnd Festerling gestoßen, die ich super finde: &bdquo;Wer Weihnachten feiert, ob gläubiger Christ oder nicht, erinnert sich schließlich der Geburt eines armen, obdachlosen Kindes in einem Stall, die Eltern Fremde, Flüchtlinge. Dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns wünschen, soll niemanden hindern, zu feiern, hoffentlich gut zu essen, sich zu beschenken, es sich gut gehen zu lassen. Keiner soll dabei ein schlechtes Gewissen haben – solange er nicht vergisst, dass da draußen große Aufgaben warten." Du fragst, warum wir es nicht schaffen, mehr von diesen Berührungen mit dem Guten in uns zu leben. Ich bin da gar nicht so sicher, ob uns das in vielen Fällen nicht sogar ziemlich gut gelingt. Gewiss gibt es immer diese Zeitgenossen, die nach dem sprichwörtlichen Haar in der Suppe des Lebens suchen, aber die innere Verfasstheit der meisten Menschen nehme ich als eine andere wahr. Sie gehen die Aufgaben an, die kleinen wie die großen, sich bewusst seiend, dass das Leben nicht nur und ausschließlich ein gelingendes sein kann. Und sie lassen sich berühren vom Leid anderer. So haben die Deutschen in der Zeit zwischen Januar und September rund 3,8 Milliarden Euro gespendet. Da schwingt doch wohl mehr als nur eine Ahnung mit, dass das Gras auf der anderen Seite des Zauns durchaus auch ziemlich verdorrt sein kann. Du merkst, liebe Jeanette, ich bin durch und durch gewillt, an das Gute im Menschen zu glauben. Findest du das naiv oder gehst du mit mir mit? Jeanette Salzmann, Mo., 13.12., 12.59 Uhr:Ich gehe mit! Weil ich es will. Nicht weil ich davon überzeugt bin. Vielleicht muss ich die Skeptikerin in mir jetzt einfach kurzfristig ignorieren. Aber mal ehrlich: beim Blick auf die derzeitige Spaltung unserer Gesellschaft – und jetzt meine ich nicht arm und reich, sondern geimpft und ungeimpft – wird dir da nicht etwas bange ums Herz? Hättest du solche Auseinandersetzungen vorher für möglich gehalten, oder möchtest du dich von Seiten der Kirche aus dem Thema lieber raushalten? Wiebke Heine, Mo., 13.12., 21.49 Uhr:Zunächst einmal: Ich bin eine absolute Befürworterin des Impfens. Als kleine Hobby-Virologin, die wir ja im Laufe der Pandemie irgendwie alle geworden sind, glaube ich den Worten der Politik und der Wissenschaft, dass nur eine Immunisierung diese Pandemie beenden kann. Ein guter Freund von mir, der Intensivmediziner ist, schrieb mir neulich, dass er, wenn er vor die Aufgabe gestellt wird, triagieren zu müssen, daran zerbrechen wird. Natürlich geht es mir auch um den Schutz meiner eigenen körperlichen Unversehrtheit, zu der ich durch das Impfen beitragen kann, aber eben auch um die Frage der Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen, die womöglich solche Entscheidungen werden treffen müssen. Von dem Schutz der Menschen, die sich aus unterschiedlichsten Gründen nicht impfen lassen können, ganz zu schweigen. Also ist aus meiner Sicht die Immunisierung auch ein Akt der Nächstenliebe. Aber ich glaube, du willst von mir nicht nur ein flammendes Impfplädoyer hören, denn du fragst ja nach der Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte. Fast 70 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung sind geimpft – ich weiß gar nicht, ob unsere Gesellschaft so gespalten in dieser Frage ist oder ob die, die quer zur menschlichen Vernunft denken, nur besonders laut krähen. Es beunruhigt mich allerdings wirklich zutiefst, dass subversive Kräfte diese große Krise als eine Chance sehen, Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten – und mir schlecht nachvollziehbaren – Gründen gegen eine Impfung entscheiden, politisch zu radikalisieren. Das allerdings wäre ein Prozess mit fatalen Konsequenzen, dessen Folgen über die Pandemie hinaus reichen würden. Welche Rolle, liebe Jeanette, trägt dein Berufsstand zum politischen Diskurs bei? Jeanette Salzmann, Di., 14.12., 15.34 Uhr:Die Corona-Krise dominiert unsere Arbeit. Wir haben eine Dauerberichterstattung über Corona. Das ermüdet nicht nur die Leserschaft, das ermüdet auch eine Redaktion. Journalisten sind keine Nachrichtenmaschinen, auch wir sind Teil dieser Pandemie und sitzen – mit einer Pause von acht Wochen – seit fast zwei Jahren im Homeoffice. Das alles hat uns verändert. Unser wichtigstes Arbeitsgerät ist das Telefon. Aber wenn man nicht mehr vor Ort ist, wenn das Gegenüber fehlt, wenn man keine Eindrücke sammeln kann, dann verändert sich Sprache. Das Sensitive geht verloren. Das passt ein wenig in die allgemeine Atmosphäre. Den politischen Diskurs begleiten wir – aber auch nur so gut, wie man uns lässt. Viele Fragen bleiben unbeantwortet und das Beschaffen von Informationen ist mühsam. Viele stellen sich vor, dass wir allerorts Antworten einholen können, aber ich kann nicht einfach ins Krankenhaus auf die Intensivstation spazieren, um zu gucken, wie es dort gerade zugeht oder mich in die Sitzung des Krisenstabs setzen. Ich muss froh sein, wenn mir Pressestellen Antworten auf meine dezidiert gestellten Fragen mailen. Dies ist kein Klagelied. Corona hat den Medien eher genützt als geschadet. In Krisenzeiten besinnt man sich auf verlässliche Nachrichten. Hat die Krise der Kirche genützt? Wiebke Heine, Mi., 15.12., 23.01 Uhr:Diese Frage kann ich ziemlich eindeutig mit &bdquo;Nein" beantworten. In der Gemeinde leben wir von Begegnungen, vom zwischenmenschlichen Miteinander – und diese waren in den Zeiten der Lockdowns, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt möglich. Dieses ständige &bdquo;Fahren-auf-Sicht", das permanente Austarieren dessen, was geht, das häufige Absagen von lange geplanten Veranstaltungen hat uns schon auch nicht wenig mürbe gemacht. Eine große Sorge ist, ob die Pandemie als Katalysator des Bedeutungsverlustes unserer Gottesdienste gewirkt hat. Jedenfalls beobachten wir, dass weniger Gemeindeglieder sonntags in die Kirche kommen. Dass wir in den letzten beiden Jahren nicht Ostergottesdienste feiern konnten und sogar an Heiligabend die Kirchen geschlossen blieben, hat uns richtig, richtig weh getan. Während ich das schreibe, fällt mir auf, dass das &bdquo;Nein" vielleicht doch nicht zu eindeutig ausfallen sollte. Denn wirklich gut ist, dass wir in dieser Krise kreativ geworden sind. Wir haben Gottesdienste im Freien und im Internet gefeiert, haben Kinder in Gärten getauft, in der Innenstadt und vor unseren Kirchen Ostertüten verteilt, der Bachchor hat musikalische Andachten aufgenommen und diese auf YouTube eingestellt u.v.a.m. Kurz, wie alle anderen auch haben wir uns bemüht, vieles möglich zu machen. Ein wirklich positiver Effekt ist die zurückgewonnene Wertschätzung für all das in unserem Gemeindeleben, was wir immer als selbstverständlich hingenommen haben. Und dass wir, wenn auch in reduzierter Form, in diesem Jahr wieder Weihnachtsgottesdienste werden feiern können, ist ein echter Hoffnungsstrahl. Also: Nicht Kopf in den Sand stecken, sondern die Worte der Weihnachtsbotschaft auf sich wirken lassen: &bdquo;Fürchtet euch nicht!"

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