Adenauer über Tönnies-Gau: "Standen vor infektiologischer Apokalypse"

Mittwoch, 17. Juni 2020 – was ist Ihnen von diesem Tag besonders in Erinnerung geblieben? Sven-Georg Adenauer: Ich weiß noch, dass ich auf dem Weg nach Dortmund war zur Verbandsversammlung des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe, als mich der Anruf von unserem Krisenstabsleiter Thomas Kuhlbusch erreichte, dass wir bei Tönnies 400 Neuinfektionen haben. Ich bin dann sofort umgekehrt und ins Kreishaus gefahren zur Krisenstabssitzung. Sie haben an dem Tag dann die Schließung aller Schulen und Kindergärten im Kreis angeordnet. War das wirklich nötig? Wir wollten unbedingt verhindern, dass sich noch mehr Menschen anstecken und das Virus in die Bevölkerung getragen wird. Ich weiß, das war für viele Eltern hart. Ich bin mit Briefen, Mails und Anrufen bombardiert worden. Die Eltern, die Schüler, aber auch die Schulen selber hatten dafür wenig Verständnis. Aber auch mit dem Wissen, das wir heute haben, erscheint es mir die richtige Maßnahme gewesen zu sein. Richtig und umsichtig. René Gottschalk, der Leiter des Frankfurter Gesundheitsamts und Seuchenexperte, hat später gesagt, der Kreis Gütersloh habe zu dem Zeitpunkt vor einer &bdquo;infektiologischen Apokalypse" gestanden. Er hat mir aus Sicht des Virologen noch einmal deutlich gemacht, wie ernst die Lage damals war. Das war kein Spaß. Aber wir haben es geschafft, dass das Virus sich nicht über die Grenzen des Kreises hinaus verbreitet hat. Wir Gütersloher durften ja auch nirgendwo hin! Ja, diese Stigmatisierung von allen Menschen, die aus dem Kreis Gütersloh kamen und ein GT-Kennzeichen hatten, die hat mich schon enttäuscht, das war unmöglich. Wenn einem Menschen erzählen, dass sie vom Strand zurück zu ihrem Ferienhäuschen gekommen sind und der Vermieter steht dann da und sagt, &bdquo;Sie haben zwei Stunden Zeit, um das hier zu räumen" – das war schon ein Ding. Gegen dieses Stigma habe ich mich auch gewehrt: Zum Beispiel habe ich ja dem österreichischen Kanzler Sebastian Kurz geschrieben, dass er die Einreise für Menschen aus dem Kreis wieder ermöglichen solle. Wie groß ist der Imageschaden für den Kreis? Ich glaube nicht, dass dadurch ein großer Imageschaden entstanden ist. Ich denke, wir haben sogar an Bekanntheit gewonnen. Wir stehen jetzt auch für einen Kreis, der dieses riesige Infektionsgeschehen erfolgreich bekämpft hat. Und überlegen Sie mal für sich selbst: Der erste große Ausbruch in Nordrhein-Westfalen war im Kreis Heinsberg – hat der Kreis bei Ihnen deshalb jetzt ein schlechtes Image? Dennoch hat der Kreis Gütersloh ebenso wie der Kreis Heinsberg 150.000 Euro vom Land bekommen, um sein Image wieder aufzupolieren. Für Standortmarketing kann gar nicht genug Geld angelegt werden. Die Pro Wirtschaft hat die Summe – die übrigens sehr kurzfristig ausgegeben werden musste – für eine Kampagne in den sozialen Medien mit dem Titel &bdquo;Gutes Leben zu vergeben" eingesetzt. Hat durch den Corona-Gau eigentlich ihr Verhältnis zu Herr Tönnies gelitten? Im vergangenen Juni hieß es, dass Vertrauen in das Unternehmen sei gleich null, als ihr Krisenstabsleiter sich in der Nacht von Freitag auf Samstag gemeinsam mit dem Arbeitsschutz Zugriff auf die Personalakten der Firma verschaffen musste. Wir hatten über einen langen Zeitraum versucht, an die Daten zu kommen. Da hat das Unternehmen sicher Fehler gemacht, die Adressen hätten sie uns früher zur Verfügung stellen müssen. Wir mussten doch wissen, wo die Menschen wohnen, die dort arbeiten. Die Adressen waren für uns ganz wichtig, um eben die Infektionsketten zu unterbrechen. Und wie ist jetzt ihr Verhältnis zu Herrn Tönnies? Wir pflegen einen respektvollen Umgang, das haben wir vorher getan und das machen wir auch jetzt. Er vertritt natürlich seine Interessen. Ich habe große Hochachtung vor seiner unternehmerischen Leistung. Ich glaube aber, dass auch er verstanden hat, dass man solche Krisen nur gemeinsam bewältigen kann und dass man dann Hand in Hand mit den Behörden arbeiten muss. Und wir dürfen auch nicht vergessen: Tönnies ist mit 8.000 Arbeitsplätzen ein Riesen-Arbeitgeber im Kreis Gütersloh. Da hängt unglaublich viel dran – Zulieferer und Landwirtschaft beispielsweise. Ich will das nicht verteufeln. Es wurde in Verbindung mit der Firma auch von hochrangigen Politikern von Systemrelevanz gesprochen. Aber auch von moralischer Verantwortung. Sind Sie zufrieden mit der Zahlung von 1,8 Millionen Euro durch Clemens Tönnies? Das war eine großzügige Zahlung und die Einlösung seiner Zusage. Die Firma hat mehr gezahlt, als letztlich unterm Strich hätte gezahlt werden müssen. Mit dem Wissen von heute, was hätten Sie im vergangenen Jahr anders machen können? Es war sicher ein Fehler, die Position des Krisenstableiters nur mit einer Person zu besetzen – Herr Kuhlbusch hat diese Aufgabe hervorragend gemanagt. Aber die Belastung für einen alleine ist einfach zu groß. Wir haben das jetzt auf drei Personen verteilt. Jens Spahn hat gesagt, wir werden einander viel verzeihen müssen . . . Was da auf uns zukommt, haben wir alle nicht vorhersehen können. Man darf nicht vergessen, wir hatten ja den größten Ausbruch in ganz Europa. Mit Jens Spahn stand ich ständig in Kontakt. Sogar die Kanzlerin hat mich angerufen. Der Kreis Gütersloh hat einen Lockdown mehr als alle anderen im Land. Und ich bin der Bevölkerung hier wirklich dankbar, dass sie in weiten Teilen so diszipliniert war. Haben Sie eigentlich im Zuge der Krise mal überlegt, die Brocken hinzuschmeißen? Nie, keine Millisekunde. Kritik und Gegenwind reizen mich eher. Dafür bin ich doch gewählt worden: Ich bin der Kapitän des Kreises Gütersloh, und als Kapitän geht man nicht von Bord, da stellt man sich der Verantwortung. Aber das Jahr war schon sehr herausfordernd. Es war ja auch ein Wahlkampfjahr – da haut man dann besonders seitens des politischen Gegners drauf. Aber so etwas entmutigt mich nicht. Welche Lehren haben sie aus der Zeit gezogen? Hausintern verändern wir unsere Struktur: Die Abteilungen Gesundheit, Ordnung und Bevölkerungsschutz werden von ihrem ursprünglichen Dezernat abgekoppelt und einem neuen Dezernat zugeordnet, das sich intensiv mit dem Thema Bevölkerungsschutz beschäftigt. Dies geschieht auch mit Blick auf zukünftige Krisen – beispielsweise ist die afrikanische Schweinepest auf dem Vormarsch. Wir planen gerade das neue Bevölkerungsschutzzentrum, wie Sie wissen, und haben als Reaktion auf die Pandemie im Bereich der Abteilung Gesundheit 60 Personen befristet eingestellt, von denen ein Kernteam unbefristet bleiben soll, die neue Task Force Pandemie. Es gab immer wieder Kritik an ihrer Krisenkommunikation. Ich glaube schon, dass wir ganz gut kommuniziert haben, anfangs vielleicht ein bisschen zu defensiv. Aber es ist auch immer eine Abwägung zwischen Datenschutz und dem, was man preisgibt. Ich plane im Bereich der Pressestelle noch eine Aufstockung, wenn die Politik dem zustimmt. Wir haben in den sozialen Netzwerken gemerkt, was da los war. Viele Menschen kommunizieren einfach nur noch über diese Kanäle. Man kann so eine Pandemie nur gemeinsam mit den Medien bewältigen, da sind wir alle aufeinander angewiesen. Aber es ist schon verwirrend, es waren immer wieder neue Zahlen, immer wieder neue Situationen, immer wieder neue Hinweise – man muss ja auch zusehen, dass man die Menschen nicht überfordert. Hatte die Tönnies-Krise für Sie auch positive Aspekte? Wir konnten uns zurückbesinnen, was wirklich zählt – Solidarität und Nächstenliebe. Dadurch, dass unsere Freiheit plötzlich weg war, weiß man die Freiheit, beispielsweise irgendwo zu sitzen und ein Bierchen zu trinken, wieder ganz anders zu schätzen. Positiv sind auch die neuen Möglichkeiten des Homeoffice und der Digitalisierungsschub, den uns die Pandemie gebracht hat. Und so mancher überdenkt jetzt sicher auch sein Konsumverhalten. Der Tönnies-Lockdown hat auch ein Schlaglicht auf die Schlachtindustrie und die Erzeugung von Lebensmitteln geworfen. Die Pandemie hat in der Fleischindustrie auch für ein verändertes Bewusstsein gesorgt und bewirkt, dass die Werkvertragsarbeiter nun in die Stammbelegschaft übernommen werden. Ich denke, der Verbraucher ist durchaus bereit, für gute Qualität mehr Geld auszugeben. Und wenn dann die Verhältnisse für diejenigen, die dort arbeiten, besser werden und dadurch das Fleisch teurer wird, dann muss man das auch in Kauf nehmen. Oder vielleicht auch mal weniger Fleisch essen. Aber ich möchte eigentlich gar nicht so viel über Tönnies reden. Da ist jetzt Ruhe eingekehrt. Herr Adenauer, sind Sie eigentlich schon vollständig geimpft? Ich bin einmal geimpft, meine zweite Impfung erhalte ich am 5. Juli. Und auch, wenn sich die Situation gerade etwas entspannt: Wir müssen weiter auf der Hut sein, das Virus ist nicht weg.

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