Sohn von Ex-Werkvertragsarbeiter gibt in Gütersloh Einblicke ins Auswanderer-Leben

Gütersloh. Seit Mai 2011 dürfen Arbeitnehmer aus acht osteuropäischen Staaten ihren Arbeitsplatz in der EU frei wählen. Seither kommen zahlreiche Arbeitsmigranten vor allem aus den Ländern Rumänien, Bulgarien und Polen in den Kreis Gütersloh. Mittlerweile sind mehr als 20.000 Menschen aus diesen drei Ländern im Kreisgebiet gemeldet, sie machen annähernd sechs Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die Fleischindustrie hat maßgeblich dazu beigetragen, die Region für Arbeitsmigranten interessant zu machen. Viel ist politisch darüber diskutiert worden. Inzwischen ist die zweite Generation der damaligen Werkvertragsarbeiter herangewachsen. Daniel Tincu ist einer von ihnen. Deine Eltern haben ihre Heimat und ihre Familie verlassen, um hier im Kreis Gütersloh Geld zu verdienen. Glaubst du, sie sind damals vor der Armut geflohen? Ja. Mein Vater ist zunächst allein nach Deutschland gekommen. Ich war erst ein Jahr alt und bin mit meiner Mutter in Rumänien geblieben. Ich denke, mein Vater hat das damals für seine junge Familie getan, um uns damit zu helfen. Meine Tante war schon hier im Kreis Gütersloh. Mein Vater hat damals bei Tönnies im Schlachthaus gearbeitet. Ein Jahr lang haben wir ihn nicht gesehen und er uns nicht. Meine Mutter hat dann entschieden, dass sie nicht länger ohne meinen Vater leben will, und wir sind alle zusammen nach Deutschland gezogen. Kannst Du das nachvollziehen, dass dein Vater für die Familie ins Ausland gegangen ist? Ich denke, es war bei ihm, wie bei all den anderen, die ich kenne: Sie erhoffen sich eine bessere Zukunft. Meine Eltern wüschen sich für mich und meine Schwester ein besseres Leben als sie selbst hatten. Es war damals schon so, dass man in Rumänien kein gutes Leben führen konnte. Das Gehalt und die Lebensbedingungen sind nicht mit denen von hier vergleichbar. Könntest Du Dir vorstellen, einfach in ein fremdes Land aufzubrechen, das Du nicht kennst und dessen Sprache Du nicht sprichst? Nein. Auf keinen Fall. Ich finde das richtig krass. Du bist in Targoviste in Rumänien geboren, das ist die ehemalige Hauptstadt der Walachei. Wie weit ist das von Gütersloh entfernt? Mit dem Auto fahren wir 20 Stunden, wenn wir dorthin fahren, brauchen wir zwei Tage. Der Ort ist etwa eine Stunde von der rumänischen Hauptstadt Bukarest entfernt. Einmal im Jahr fahren wir dorthin. Immer in den Sommerferien. Wer wartet dort auf euch? Meine Großeltern, Tanten, Onkel und eine große Familie. Targoviste ist kleiner als Gütersloh, wie habt ihr dort gelebt? Wir hatten eine Wohnung direkt in der Stadt. Aber inzwischen sind wir aufs Land gezogen, dort, wo meine Mutter aufgewachsen ist. Es stand ein Grundstück zur Verfügung und meine Eltern haben eine Art Ferienhaus dort gebaut. Im Sommer leben wir dort. Lesen Sie auch: Trauer um einen der ersten türkischen Gastarbeiter in Rheda-Wiedenbrück Planen deine Eltern, Gütersloh wieder zu verlassen, um nach Rumänien zurückzugehen? Sie sagen immer, dass sie es sich vorstellen könnten, mit Beginn der Rente zurückzugehen. Fühlen sich deine Eltern wohl in Deutschland? Ich glaube schon, aber sie sprechen nicht viel darüber. Haltet ihr viel Kontakt zu eurer Familie in Rumänien? Meine Eltern telefonieren häufig mit meinen Großeltern. Ich nicht so oft. Wenn ich ehrlich bin, habe ich keinen so großen Bezug dorthin. Ich sehe Rumänien eher als Urlaubsort. Ein Leben in Rumänien kann ich mir offen gesagt nicht vorstellen. Warum? Ich war zwei Jahre alt, als ich nach Deutschland gekommen bin. Ich kann mich an keine andere Zeit erinnern. Hier ist meine Schule, hier sind meine Freunde und Bekannten, hier ist mein Leben. Ich bin nicht wirklich traurig, wenn ich von Rumänien wieder nach Deutschland zurückfahre. Ich weiß, dass ich nächstes Jahr wieder da bin. Meine Eltern sind hingegen schon traurig. Was ich auch verstehen kann. Haben Deine Eltern Heimweh? Bestimmt. Sie reden nicht offen darüber, aber ich kann es mir schon vorstellen. Du bist in Blankenhagen aufgewachsen und wohnst in einem der großen Mehrfamilienhäuser mit 15 anderen Familien. Die Wohnblocks und die zahlreichen Nationen sorgen dafür, dass die Gütersloher oft kritisch auf den Ortsteil gucken. Wie fühlst es sich für dich an? Ich mag Blankenhagen. Allerdings fehlt mir der Vergleich zu anderen Stadtteilen in Gütersloh, ich weiß nicht, ob es an anderer Stelle wirklich besser läuft oder man dort besser leben kann. Multikulti ist für mich normal, ich kenne es gar nicht anders. In meiner Grundschulklasse gab es eigentlich nur ausländische Kinder. Das hat sich erst geändert, als ich aufs Städtische Gymnasium gekommen bin. Ich weiß, wie gut ich es in Blankenhagen habe, denn wenn ich unser Zuhause mit dem meiner Großeltern vergleiche, leben wir zu hundert Prozent besser. Ich habe in Rumänien schon viel Armut gesehen, auch über die Familie hinaus. Wie würde Dein Leben wohl aussehen, wenn Deine Eltern in ihrer Heimat geblieben wären? Total anders. Aber ehrlich gesagt kann ich mir das kaum vorstellen. Ich sehe meine Cousins und Cousinen und kann das nur schwer vergleichen. Meinst Du, sie blicken neidisch auf Dein Leben in Deutschland? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass meine Eltern immer Geschenke nach Rumänien mit nehmen, weil es auch erwartet wird. Unsere Verwandten wissen, dass es uns hier in Deutschland besser geht. Gibt es Überlegungen von anderen Familienmitgliedern, nach Deutschland zu kommen? Nein, im Moment nicht. Die große Welle scheint vorbeizusein. Diejenigen, die jetzt kommen, sind viel jünger. Es sind nicht mehr so viele Familien. Zumindest habe ich den Eindruck. Hast du Familien erlebt, die zurückgekehrt sind, weil sie in Deutschland nicht zurechtgekommen sind? In Gesprächen von meinen Eltern habe ich hier und da solche Fälle mitbekommen, aber die meisten Familien bleiben. Weil sie Kinder bekommen haben, die hier groß werden und die sie nicht aus der Schule reißen wollen. Ich glaube, viele bleiben tatsächlich für ihre Kinder hier. So, wie Deine Eltern? Ja, bestimmt. Übt das emotionalen Druck aus auf Dich? Vielleicht ein bisschen. Meine Eltern fordern keine guten Noten, aber ich fordere es von mir selbst. Ich möchte studieren und einen gut bezahlten Job. Meine Eltern haben viel für mich aufgegeben und ich möchte nicht, dass das umsonst gewesen ist. Du sprichst akzentfrei Deutsch. Musstest du als Kind für deine Eltern oft übersetzen? Ja. Auch viel für die Familie und sämtliche Bekannten. Das mache ich teilweise immer noch. Ich führe Gespräche im Auftrag oder erledige Telefonate bei Behörden oder Ärzten und übersetze Briefe und andere Schreiben. Wie fühlt es sich an, wenn man als Kind den Erwachsenen helfen muss? Komisch (lacht)! Ich frage mich rückblickend, was ich da wohl manchmal hingeschrieben habe auf die Papiere, oder gefragt habe. Manches habe ich inhaltlich ja gar nicht verstanden. Zu Elternabenden bin ich in die Schule mitgegangen, um zu übersetzen. Alles andere habe ich früh alleine geregelt, weil meine Eltern die deutsche Sprache nicht gut verstanden hat. Lesen Sie auch: Die (un)freiwilligen Helfer im Kreis Gütersloh: Asylbewerber arbeiten für 1,05 Euro Wir waren aber nicht völlig auf uns allein gestellt. Meine Eltern haben relativ früh eine gute Bekanntschaft mit einem deutschen Ehepaar aus Blankenhagen geschlossen. Sie haben uns mit der ganzen Bürokratie und mir mit der Schule geholfen. Oft hat es sich angefühlt, als wenn sie meine Großeltern sind. Bist Du schneller erwachsener geworden als deine gleichaltrigen Mitschüler? Ja, das würde ich schon sagen. Ich war oft auf mich allein gestellt, musste Sachen schneller lernen und begreifen, als andere Kinder, weil da niemand war, den ich um Rat fragen konnte. Meine kleine Schwester ist sieben Jahre alt und hat es heute etwas einfacher, ich kann ihr immer helfen. Das hätte ich mir damals gewünscht. Aber andererseits wäre ich wohl nicht die Person geworden, die ich heute bin. Hast Du Dich alleine gefühlt, oder warst du es tatsächlich auch im Alltag? Ich war auch oft alleine. Meine Eltern haben in den ersten Jahren hier in Deutschland extrem viel gearbeitet. Meine Mutter hat mich zu ihrer Arbeit mitgenommen und ich musste dort warten. Stundenlang habe ich dort gesessen und alleine gespielt. Später musste ich mich mehr anstrengen als andere Kinder zum Beispiel bei Hausaufgaben. Es gab nur wenige Dinge, wo ich meine Eltern um Rat fragen konnte. Ich habe das Glück, das alles zu schaffen. Es hätte auch anders ausgehen können. Gab es Lehrer, die Dich in Deiner Situation unterstützt haben? Ein bisschen im Gegenteil. Ich hatte eine Lehrerin, die meine Mutter davon überzeugen wollte, die Gymnasial-Empfehlung nicht umzusetzen. Sie war der Meinung, dass ich dort nicht zurechtkomme. Meine Mutter hat glücklicherweise nicht auf sie gehört. Daran muss ich oft denken. Du machst in zwei Jahren dein Abitur. Möchtest Du in Gütersloh bleiben? Ich kann mir nicht vorstellen, hierzubleiben. Ich sehe mich eher in einer größeren Stadt. Vielleicht würde ich irgendwann zurückkommen, aber erst mal möchte ich weg. Meinen Eltern zuliebe würde ich allerdings nicht zu weit weggehen. Hast Du schon einmal Rassismus erlebt, wegen Deines Namens oder Deiner Herkunft? Nein, tatsächlich ist noch nie etwas Schlechtes passiert, aber ich habe durchaus Angst davor. Ich rechne eigentlich immer damit, dass Leute mir mit Vorurteilen begegnen. Die AfD hat bei der Bundestagswahl im Februar in Blankenhagen einen Anteil von 31,79 erhalten. Wie guckst du auf diese Zahl? Der Zuwachs schockt mich nicht, aber er erschreckt mich. In meinem Umfeld erlebe ich niemanden, der mich persönlich anfeindet, deshalb verwundert es mich, wie viele es dann doch sind. Es müssen ja viele sein, sonst gäbe es diese Zahlen nicht. Du nimmst das Wahlergebnis der AfD persönlich? Ja. Du bist 16 Jahre alt und könntest theoretisch an der nächsten Kommunalwahl im Herbst teilnehmen. Hast Du eine doppelte Staatsbürgerschaft? Nein, nur die Rumänische. Aber ich überlege schon länger, die doppelte Staatsbürgerschaft zu beantragen. Gibt es etwas, das dir besser an Rumänien als an Deutschland gefällt? Das Wetter. Das ist meistens schöner. Bei dem Land selbst kann ich noch nicht so viel vergleichen, weil ich nicht alles kenne. Aber meine Eltern haben es sich zur Aufgabe gemacht, meine Schwester und mir möglichst viel von Rumänien zu zeigen, wenn wir dort sind. Möchten deine Eltern, dass ihr beiden eine Beziehung zu diesem Land behaltet? Ja. Das ist ihnen wichtig. Was bedeutet Heimat für Dich? Den Begriff kann ich nicht so richtig füllen. Ob Deutschland oder Rumänien meine Heimat ist, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. In welcher Sprache finden Deine Träume statt? Gute Frage (lacht), ich glaube, ich habe noch nie in Rumänisch geträumt. Glaubst Du, dass Du schon typische deutsche Eigenschaften angenommen hast? Bestimmt!

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