Weihnachten mit dem Gefühl von Verlust - ein Seelsorge-Experiment per Mail

Jeanette Salzmann schrieb am Di., 15.12., 11.30 Uhr: Lieber Stefan, aus der Politik höre ich die Aufforderung, in diesem Jahr auf den Weihnachtsgottesdienst zu verzichten. Stattdessen solle man sich in diesem sensiblen Moment zurückhalten. Wer das aus religiösen Gründen nicht nachvollziehen könne, dem müsse man entgegenhalten: &bdquo;Jesus, Maria und Joseph waren Heiligabend auch alleine." Solche Aussagen sorgen bei mir dafür, dass ich mich schlecht fühle, denn ich möchte diesen besonderen Gottesdienst ganz einfach nicht aufgeben. Ich kann es drehen und wenden wie ich will, jede Entscheidung pro oder kontra Kirche scheint falsch zu sein, oder? Stefan Salzmann, Di., 15.12., 14.42 Uhr: Liebe Jeanette, das kann man so sehen und sich so oder so schlecht fühlen. Gleichzeitig frage ich: wie viel Raum bekommt dieses Sich-schlecht-Fühlen in mir? Es ist ja, finde ich, durchaus der Lage angemessen, dass es für beide Entscheidungen gute Gründe gibt. Und zu den Dingen, die wir vielleicht in der Pandemie lernen konnten, gehört es, das auszuhalten und immer wieder nach einem guten und verantwortlichen Weg zu suchen. Und dann diesen möglichst beherzt zu gehen. Ob Joseph und Maria nun im Stall allein waren oder die Hirten mitgezählt werden, lasse ich mal dahingestellt. Hinter dem Einwand, die Kirche beanspruche mit ihren Weihnachtsgottesdiensten eine Sonderrolle, steht ja eher die Frage, was diese Sonderrolle rechtfertigt. Für uns Verantwortliche auf Seiten der Kirche: Was macht diese Gottesdienste so wichtig für die Menschen? Was würden wir ihnen nehmen, wenn wir diese Gottesdienste nicht anbieten würden? Was würden wir Dir nehmen, liebe Jeanette? Jeanette Salzmann, Di., 15.12. 20.45 Uhr: Ihr würdet mir tatsächlich das Gefühl von Weihnachten rauben. Der Kirchgang vor der Bescherung ist ja ganz viel: Tradition spielt natürlich eine wesentliche Rolle, klar, aber ich habe auch eine gewisse Sorge, dass wir etwas unwiederbringlich durchtrennen. Meine Kinder kennen kein Weihnachten ohne Gottesdienst. Und wenn Kirche in unserem Alltag auch keine so vordergründige Rolle spielt, so ist ausgerechnet diese Messe doch eine, die von niemandem in der Familie in Frage gestellt wird, über die wir nicht diskutieren und niemanden überreden müssen. Hast du gar keine Sorge, dass du als Pfarrer das ein oder andere Schäfchen in dieser Pandemie verlierst, weil wir uns gezwungenermaßen von so vielen Dingen entfernen und vielleicht auch von Kirche entwöhnen? Stefan Salzmann, Di., 15.12., 8.48 Uhr: Ehrlich gesagt, habe ich in diese Richtung noch gar nicht gedacht, dass möglicherweise etwas durchtrennt wird, eine Entwöhnung geschieht – und: ich halte nicht ganz Dein Tempo mit. Ich hänge noch an der Frage, was unsere Weihnachtsgottesdienste für mich so wichtig macht. Das Ganze wird in meinem Kopf auch noch dadurch befeuert, dass mich gestern Abend kurz vor Deiner Mail die Nachricht erreichte, dass unsere Landeskirche den Gemeinden empfiehlt, alle Präsenzgottesdienste abzusagen und wir uns nun dazu verhalten müssen. Also: ich finde, in unseren Kirchen ist an Weihnachten Trost und Ermutigung zu spüren, die Ahnung, wie die Welt eigentlich sein könnte und sollte, ein Gespür für die Kraft der Liebe und Menschlichkeit. Und ich finde, gerade jetzt brauchen wir einen Raum, wo das spürbar und erfahrbar wird. Und etwas anderes kommt hinzu: Wenn wir die biblische Weihnachtsgeschichte in unseren Gottesdiensten inszenieren, dann bauen wir nicht eine heile Welt auf gegen die Schrecken der Wirklichkeit. Ausgrenzung, Verzweiflung, Armut, Lebensgefahr, das alles ist Teil dieser Geschichte. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung, Anm. d. Red.) meint, in unseren Krippendarstellungen sollten auch die Dämonen mit am Hirtenfeuer sitzen. Das Licht und die Hoffnung, die von der Christgeburt am Rande der Gesellschaft ausgehen, werden gerade dadurch geerdet finde ich. Und auch manches Gottesbild wird durch das ohnmächtige der Verfolgung ausgesetzte Kind, das für uns ja schon eine so normale Weihnachtsvorstellung ist, in Frage gestellt. Von hier aus komme ich noch einmal auf Deine Frage zurück: Ja, Sorge vor einer Entwöhnung ist angemessen. Und: vielleicht führt – im besten Fall – die &bdquo;Störung" des &bdquo;normalen Weihnachten" durch Corona dazu, einen neuen Blick auf das zu werfen, was dieses Fest ausmacht? Jeanette Salzmann, Mi., 16.12., 19.47 Uhr: Die neue Empfehlung der Landeskirche hat heute schon zu einer ersten Familiendiskussion beim Frühstück geführt. Ich schwanke zwischen Traurigkeit und Trotz. Weißt du eigentlich, dass Psychologen das Weihnachten begrüßen, weil die damit verbundenen Rituale gesund für unsere Seele sind? Das &bdquo;Warten aufs Christkind" zum Beispiel formt den Charakter. Kinder, die gelernt haben, Belohnungen aufzuschieben, sind auf vielfältige Weise für das Leben gewappnet. Der Adventskalender ist ein gutes Training. Hättest du das gedacht? Aber was ist warten ohne Ende? Das ist dann wohl ein Zustandswechsel den ich &bdquo;aushalten" nenne. Ich warte auf Weihnachten, auf das Jahresende, auf etwas Schönes, Erfreuliches, Feierliches zum Abschluss. Bleibt das aus, weil jegliches Ritual bis hin zur Silvesterrakete nicht stattfinden darf, passiert etwas mit unseren Seelen. Oder meinst du, ich mache gerade zu viel Drama? Stefan Salzmann, Do., 17.12., 11.04 Uhr: Ja, ich finde auch, dass &bdquo;Aushalten" und Ungewissheit unglaublich viel Kraft kosten und sich auf die Seele legen. Und ich merke bei mir wie dünnhäutig ich werde. Zuviel Drama? Vielleicht eher so, dass sich in diesen Fragen um Weihnachten mit seinen vertrauten Ritualen ganz viel fokussiert von dem, was derzeit in der Luft liegt. In unseren kirchlichen Diskussionen höre ich immer wieder Sätze, fast mit einer Portion Trotz, wie: &bdquo;Weihnachten findet statt" und: &bdquo;Die Botschaft des Engels an die Hirten: Fürchtet Euch nicht! ist gerade in Coronazeiten wichtig und kann auch digital gehört werden." Ja! Und gleichzeitig frage ich mich, wie solche Sätze Lebenskraft bekommen, das Herz erreichen, wirklich trösten oder ermutigen – und nicht einfach Wortgeklingel sind. Für mich bekommen diese Worte oft gerade dann eine Wahrheit, wenn sie eingebunden sind in heilsame und vertraute Rituale. So ähnlich höre ich das auch bei Dir. Oder wenn ich in die biblischen Szenen eintauchen kann, aus denen sie kommen. Eine Geburt in Obdachlosigkeit, eine lebensgefährliche Flucht mit einem Säugling, um nur zwei Erzählsituationen zu nennen, denen Maria und Joseph ausgesetzt sind, haben ja noch einmal ein ganz anderes Unsicherheitspotenzial als die Bedrohungen der Corona-Pandemie für mich. Wenn in diesen biblischen Szenen etwas davon spürbar wird, dass Gott in dieser zerrissenen Welt da ist, dass er oder sie auf vielleicht ungewöhnlichen Wegen und jedenfalls überraschend und eher vom Rande her wirkt, heilend wirkt, dann empfinde ich Trost. Wenn in der Bibel die Geschichte von Jesus als Gegengeschichte zur offiziellen Geschichtsschreibung von oben mit dem römischen Imperium als dem zentralen Machtfaktor erzählt wird, dann macht mir das Hoffnung, dass wir unser Zusammenleben in der Welt in dieser Gegenkraft anders organisiert kriegen. Erreichen dich Worte aus der Weihnachtsbotschaft, liebe Jeanette? Jeanette Salzmann, Do., 17.12., 20.15 Uhr Ja, diese Worte erreichen mich sehr wohl. Deine tun es aber auch, denn ich meine zu erkennen, dass du den Weihnachtsgottesdienst nicht leichtfertig aufgeben willst. Und ich teile den Zustand der Dünnhäutigkeit. Gleichzeitig muss ich mich immer wieder selbst zurechtweisen, denn ich gehöre schließlich zu einer Generation, die weder Krieg noch andere schwere Zeiten erlebt hat. Neulich hat mich jemand gefragt, wie unsere Nation mit all ihren Querdenkern wohl reagiert, wenn wir mal Schlimmeres als Corona erleben. Der Blick nach unten geht natürlich immer und funktioniert auch für den Moment. Aber es tröstet mich nicht. Furcht und Freude: Von zwei starken widersprüchlichen Gefühlen ist in der Weihnachtsbotschaft der Engel die Rede. Furcht und Zittern – das ist die menschliche Grundstimmung, die uns unter den wechselnden Bedingungen unseres Lebens immer wieder aufs neue packt. Jetzt brauchen wir etwas Freude gegen alle Furcht in diesem Corona-Jahr. Und die kommt nicht, wenn ich Heiligabend eine Kerze ins Fenster stelle. Kinder sind weniger umständlich. Heute fiel der Satz: &bdquo;Kein Gottesdienst? Das ist kein Weihnachten!" Zur Stunde tagt das Presbyterium. Ich bin gespannt, wie du dich entscheidest. Stefan Salzmann, Fr., 18.12., 9.50 Uhr: Gestern Abend nach unserem Presbyterium war ich zu müde, um zu antworten. Jetzt sitze ich mit einer Tasse dampfenden Tees und einer Portion sonniger Morgenfrische am Schreibtisch. Ja, ein Sonnenmorgen voll Licht hat auch etwas Tröstliches und mir kommt mein Lieblings-Adventslied in den Sinn: &bdquo;Die Nacht ist vorgedrungen/ der Tag ist nicht mehr fern/ So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern/ Auch wer zur Nacht geweinet/ der stimme froh mit ein./ Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein." Das Lied ist von Jochen Klepper 1938 geschrieben, der mit seiner jüdischen Frau von den Nazis drangsaliert wurde und sich schließlich 1942 das Leben nahm. Da geht es mit ähnlich wie Dir, dass ich denke, wie unglaublich privilegiert mein Leben selbst in Coronazeiten ist und dass sich wirklicher Trost in ganz anderen Lebenssituationen bewähren muss als bei der Frage, ob Weihnachtsgottesdienste stattfinden können oder nicht. Du bist gespannt wie ich mich entscheide, schreibst Du. Ich persönlich habe bei unserer Abstimmung anders gewichtet als die große Mehrheit des Presbyteriums. So sind wir, durchaus mit guten Gründen, der Empfehlung unserer Landeskirche gefolgt, aus Solidarität und im Blick auf unser Gesundheitssystem auf Präsenz-Gottesdienste zu verzichten, um möglichst jede Menschenansammlung zu vermeiden. Per Mail erreichen mich gerade übrigens – neben viel Zustimmung – auch Reaktionen wie die Deiner Kinder: &bdquo;Es ist Weihnachten!!! Weihnachten ohne Gottesdienst?????? Und wenn ich alleine hingeh." Das fällt mir schwer, zu hören bzw. zu lesen. Und: ich denke auch: wie kostbar vielen dieser Gottesdienst ist. Wow!! Manchmal braucht es ja vielleicht auch, dass etwas fehlt, um seine Bedeutung zu erkennen. Es gibt, glaube ich, sogar eine ganze Philosophie, die ihr Denken vom Gefühl des Vermissens aus startet und darin einen Schlüssel zum Leben sieht, vielleicht auch dann zur Freude. Jeanette Salzmann, So., 20.12., 11.16 Uhr: Kein Gottesdienst und keine offene Kirche, stattdessen alle 30 Minuten Geläut und Pfarrer, die telefonisch zu erreichen sind. Hat es das jemals in den letzen 2.000 Jahren gegeben? Ich akzeptiere eure Entscheidung. Was auch sonst? Wird es das erste Weihnachten sein, dass du mit deiner Familie verbringen kannst, weil du nicht arbeiten musst? Stefan Salzmann, Mo., 21.12., 11.11 Uhr: Tja, auch in den vergangenen Jahren konnte ich natürlich mit der Familie feiern, ich war ja nicht rund um die Uhr in der Kirche. Doch es fühlt sich diesmal schon komisch an – ich weiß noch nicht, wie wir das gestalten. Ich wünsche mir mit der Familie auch so etwas wie einen kleinen Hausgottesdienst. Mal schauen, ob wir unsere Kinder dafür gewinnen können? Aber Singen und Musizieren am Weihnachtsbaum sind gesetzt. Und das Essen muss natürlich das Gleiche wie alle Jahre zu Weihnachten sein, das ist streng ritualisiert und darauf legen die Kinder größten Wert. Jeanette Salzmann, Mo. 22.12.,12.17 Uhr: Wie wird es weitergehen in 2021? Habt ihr euch schon Gedanken gemacht, mit welchen Formaten ihr die Zeit bis Ostern gestalten könnt? In den Weihnachtsgrüßen, die mich erreichen, lese ich aktuell vielfach den Wunsch nach Normalität, verbunden mit einer Hoffnung, dass wir als Gesellschaft bald wieder dort ansetzen können, wo Corona im März dieses Jahres vieles beendet hat. Geht das überhaupt oder ist die zwischenzeitliche Entwicklung in vielerlei Hinsicht unumkehrbar? Oder lass mich anders fragen: Würdest Du das wollen? Stefan Salzmann, Di., 22.12., 12.44 Uhr: Nein, ich will nicht, dass wir da weitermachen, wo wir im März aufgehört haben! So toll war unsere Welt ja vor Corona auch nicht. Unser Lebensstil, der dramatisch das Klima bedroht, der oft menschenverachtende Umgang mit Geflüchteten hier und an den europäischen Grenzen, das Stöhnen unter Zeit- und Leistungsdruck in der Beschleunigungsgesellschaft – das sind ja nur einige Stichworte dafür. Ich fürchte, die Versuchung ist groß, zur Normalität der Zeit vor Corona zurückkehren zu wollen. Weil wir uns ja nach vielem sehnen, was wir jetzt vermissen. Und natürlich möchte ich auch wieder Menschen in den Arm nehmen können, andere besuchen, Feste feiern. Eine spannende von Dir angesprochen Frage wird ja sein, ob wir das wieder unbefangen werden tun können, selbst wenn die Infektionsgefahr gebannt ist. Für unser kirchliches Leben in 2021 jedenfalls möchte ich beides im Auge behalten. Die Fastenzeit vor Ostern ist in kirchlicher Tradition ja Wüstenzeit, in der wir uns für das persönliche und das gesellschaftliche Leben fragen: Was stimmt nicht? Was will, was muss verändert werden – um meinetwillen, um anderer Menschen willen und um Gottes willen? Darum geht es ja bei den alten Worten von &bdquo;Buße" und &bdquo;Umkehr". In welchen Formaten wir dann auf Ostern zugehen, wird sich zeigen. Doch ich bin sicher: wir werden mit diesen Themen da sein. Und auch mit der anderen Frage, wie menschliche Nähe, Körperlichkeit im Kontakt, Vertrauen ins Leben, gelebt und möglicherweise auch geheilt werden können.

Meistgelesen