Bombenhagel in Bielefeld: Wie Ilse Eßmann den 30. September 1944 überlebte

Bielefeld. In Schockstarre steht Ilse Landwehr mit ihrer Tante Paula vor dem Trümmerhaufen an der Albrechtstraße 16, der einmal ihr Elternhaus war. Wenige Stunden zuvor, am frühen Nachmittag des 30. September 1944, hatte das Gebäude bei einem der schwersten Bombenangriffe, die Bielefeld ertragen musste, einen Volltreffer abbekommen. &bdquo;Hier konnte niemand überlebt haben“, geht es der Achtjährigen durch den Kopf. Und ihre schlimmen Befürchtungen sollten sich bewahrheiten. Unter den Trümmern liegt die Leiche ihrer Mutter Emmi (35). Sie starb zusammen mit Ilses Schwester Helga (4) und ihrem kleinen Bruder Friedrich-Wilhelm, der erst vier Monate alt war. Auch Ilses Oma Lina und deren Schwester Lisette, die zuvor bereits in Essen ausgebombt worden waren, wurden Opfer des Bombentreffers, ebenso wie die 17-jährige Gerda Frerk, die im Hause Landwehr Haushaltshilfe war. Weinend stehen Ilse und ihre Tante vor dem qualmenden Trümmerhaufen, als ein Mann mit zwei Eimern Wasser kommt – als ob er damit die brennenden Häuser löschen könnte. Statt Mitleid kommt von ihm nur eine strenge Mahnung: &bdquo;Eine deutsche Frau weint nicht.“ &bdquo;Man sitzt da und zittert vor Angst“ Dass Ilse den Bombenangriff auf Bielefeld überlebt hat, war reiner Zufall. Die Familie war bereits 1943 nach Uerentrup evakuiert worden und wohnte dort im Haus von Verwandten. Weil Ilses Vater Wilhelm, der in der Albrechtstraße 16 seine Zahnarztpraxis hatte, im Herbst 1944 als 41-Jähriger noch zur Wehrmacht eingezogen wurde, war Emmi Landwehr am Morgen des 30. Septembers mit ihren Kindern in die Innenstadt gekommen, um die Praxis &bdquo;einzumotten“. Gegen Mittag kam die zehn Jahre ältere Schwester der Mutter, Ilses Tante Paula. Sie nahm ihre Nichte auf dem Gepäckträger ihres Fahrrads mit in ihre Wohnung an der Ziegelstraße, wo sie um 12.57 Uhr erstmals an diesem Tag die Sirenen heulen hörten – Voralarm. Um 13.49 Uhr gaben die Sirenen dann Vollalarm, wenige Minuten später hörten Ilse und ihre Tante im Keller die näher kommenden Einschläge: &bdquo;Man sitzt da und zittert vor Angst.“ Um 16.47 Uhr gab es dann endlich Entwarnung. Doch als das Mädchen wieder ins Freie gelangt, verheißt der Blick nach Westen nichts Gutes. Eine dichte Rauchwolke steht über der Innenstadt. Es dämmert bereits, als Ilse und ihre Tante auf dem Rad die Albrechtstraße erreichen. Vor einem Holzbetrieb brennen die Zaunpfosten wie Fackeln. Ilses Elternhaus existiert nicht mehr. Und das ist der Moment, in dem ihre Erinnerung aussetzt. Keine Erinnerung an Tage nach Bombenangriff Wut auf die feindlichen Bomber? Trauer um Mutter, Oma und Geschwister? Gab es eine Trauerfeier? Ilse weiß es nicht. Die Tage nach dem Bombenangriff sind aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Oder verdrängt worden. Außer Ilse hat auch ihr Großvater Gottlieb durch Zufall überlebt. Er war am Morgen in seinen Geburtsort Stedefreund bei Herford gefahren, um Äpfel und Kartoffeln für den nahen Winter zu bestellen. Nun sind Frau und Schwägerin tot. Ilses Vater Wilhelm bekommt einige Tage Heimaturlaub. Auf dem Sennefriedhof muss er Frau und Kinder identifizieren. Sie werden im Familiengrab der Landwehrs beigesetzt. Der Vater muss zurück zu seiner Einheit nach Stendal. Ilse kommt zunächst mit ihrem Großvater bei den Verwandten in Uerentrup unter. Den Einmarsch der Amerikaner am 4. April 1945 erlebt sie im Oerlinghauser Ortsteil Helpup bei ihrer Tante Irene. Die Zwillingsschwester ihrer Mutter war dort im Pfarrhaus einquartiert. Dort erlebt Ilse einige Tage nach Kriegsende den tief sitzenden Rassismus in der US-Armee: Weiße Gefallene werden würdevoll aufgebahrt, ihre schwarzen Kameraden dagegen wie verendetes Vieh auf Anhänger geworfen. Schrecken wurde über Jahre hinweg verdrängt Den Besatzern begegnet die inzwischen Neunjährige nicht mit Zorn oder Hass. Vielmehr verspürt sie Erleichterung, dass sich endlich ihr heimlicher Wunsch erfüllt hat, den sie als Siebenjährige beim Blick auf eine Sternschnuppe hatte: &bdquo;Der Krieg soll vorbei sein!“ Mit ihrer Tante Irene zieht Ilse in das Haus ihres Großvaters Heinrich auf dem Calvinenfelde. Nach Kriegsende kehrt ihr Vater zurück, heiratet bald eine Kriegerwitwe. Ihre leibliche Mutter kann die neue Frau nicht ersetzen. Ilse ist froh, wenn sie ihr Herz bei der Leiterin einer kirchlichen Jugendgruppe ausschütten kann. Ansonsten kümmert ihr Schicksal niemanden, weder in der Verwandtschaft noch in der Schule: &bdquo;Das war kein Thema. Alle hatten ihr Päckchen zu tragen.“ Nach dem Krieg machte Ilse Eßmann ihr Abitur am Ceciliengymnasium. Nach vier Semestern an der Pädagogischen Akademie zog sie 1957 mit ihrem Kommilitonen und späteren Ehemann Hermann Eßmann nach Erndtebrück (Kreis Siegen-Wittgenstein), wo sie beide an Volks- und Hauptschulen unterrichteten. Nach der Pensionierung zog das Ehepaar 1998 nach Hardegsen (Landkreis Nordtheim), wo es zusammen mit der einzigen Tochter – inzwischen ebenfalls pensionierte Lehrerin – wohnt. Ihr ganzes Leben lang gelang es der heute 88-Jährigen, das Geschehen vom 30. September 1944 zu verdrängen. Und doch gibt es eine lebendige Erinnerung an ihre Schwester, die als Vierjährige im Bombenhagel von Bielefeld den Tod fand: Ilses Tochter wurde auf den Namen Helga getauft. Hintergrund: Tiefe Narben im Gedächtnis der Stadt Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges hat es mehrere Angriffe auf Bielefeld gegeben, den ersten bereits in der Nacht zum 21. Juni 1940. Doch während bei den ersten Attacken nur wenige Todesopfer und eher geringer materieller Schaden zu beklagen waren, sollte der Großangriff vom 30. September 1944 rund 650 Menschenleben fordern und das Gesicht Bielefelds für immer verändern. 300 Bomber der 3. US-amerikanischen &bdquo;Bomb Division“ zerstörten große Teile der Altstadt. Weil der durchdringende Ton der heulenden Sirenen sich in den Tagen und Wochen zuvor häufig als falscher Alarm entpuppt hatte, wurde der Fliegeralarm an diesem Tag von vielen Bielefeldern unterschätzt. Als die Flugzeuge dann über der Stadt waren, war es für viele Menschen zu spät, noch Schutzräume oder Bunker aufzusuchen. Die Angriffswellen bestanden aus einer Kombination von Spreng- und Brandbomben und bewirkten neben direkten Zerstörungen auch einen aus unzähligen Bränden bestehenden Feuersturm, der einen Großteil der Stadt in Flammen aufgehen ließ. Tausende fliehen aus dem zerstörten Bielefeld Die Feuerwehr kämpfte unter extremen Bedingungen, viele Straßen waren unpassierbar und Wasserleitungen zerstört. Einsatzkräfte aus der gesamten Region sowie weitere Feuerwehrbereitschaften aus Städten wie Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Münster und Wuppertal kamen zur Unterstützung. Das Luftschutzkommando, das sich im &bdquo;Sedanbunker“ an der heutigen Weißenburger Straße befand, war allerdings überfordert und konnte die unterschiedlichen Hilfskräfte nicht effektiv koordinieren. Vier Tage lang kämpften die Wehrleute gegen die Flammen. Besonders tragisch war die Lage der Zwangsarbeiter, denen der Zutritt zu Bunkern und Kellern verwehrt blieb und die dem Angriff somit ungeschützt ausgesetzt waren. Nach dem Angriff flohen Tausende Menschen aus der zerstörten Stadt, die in den folgenden Monaten das Ziel von weiteren Angriffen wurde. Erst mit dem Einmarsch der amerikanischen Truppen am 4. April 1945 endete der Krieg in Bielefeld. Die Verwüstungen hinterließen tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis, die Narben des Großangriffs sollten noch lange Jahre deutlich sichtbar bleiben. Insgesamt waren durch die Angriffe 1.349 Todesopfer zu beklagen.

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