Verdi legt in Bielefeld den ÖPNV komplett lahm: Wo bleibt die Empörung der Bürger?

Bielefeld. Dass die Gewerkschaft Verdi bereits zum zweiten Mal innerhalb einer Woche fast den gesamten ÖPNV in Bielefeld lahmgelegt hat, wurde zwar für viele Menschen zu einer echten Herausforderung, verärgert oder gar wütend auf die Streikenden waren und sind aber nur die Wenigsten. Selten wurden Warnstreiks so massiv von der Bevölkerung unterstützt wie derzeit. Wieso ist das so? Woher kommt die Bereitschaft der Bürger, die Streikauswirkungen fast kritiklos hinzunehmen? &bdquo;Früher haben die Menschen gedacht: Die Streikenden kriegen einfach den Hals nicht voll“, sagt Sebastian Bamberg, Sozialpsychologe der Fachhochschule Bielefeld. &bdquo;Heute ist das anders.“ Steigende Energie- und Lebensmittelpreise betreffen die gesamte Gesellschaft – der Wohlstand vieler, auch der der Mittelschicht, sei gefährdet. &bdquo;Mit Verdi haben wir das Gefühl, dass sich jemand, stellvertretend für uns alle, für bessere Lebensbedingungen einsetzt“, so der Professor. Drei Gründe, warum die Akzeptanz derzeit so hoch ist Die aktuelle Akzeptanz für die Streikenden baut sich laut Bamberg auf drei Säulen auf. 1. Identifizieren: Immer mehr Menschen können sich in die Arbeitskämpfer hineinversetzen, verstehen deren Sorgen und Ängste und wissen, dass sie auch selbst hätten in dieser Situation stecken können. Der Neid, dass die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, anders als viele andere Arbeitnehmer, für mehr Gehalt kollektiv ihre Arbeit niederlegen dürfen, statt allein mit dem Arbeitgeber verhandeln zu müssen, sei verflogen, so Bamberg. 2. Empören: Wenn sich daraus dann eine Empörungswelle entwickelt und die Menschen sich als &bdquo;Opfer der Konzerne“ sehen, steige das Ungerechtigkeitsgefühl und erhöhe noch einmal massiv die Bereitschaft, sich den Folgen des Streiks unterzuordnen. 3. Verändern: Einer der wichtigsten Faktoren sei die Frage: Was kann der Streik bewirken? &bdquo;Wenn sich rausstellt, Verdi streikt zwar jeden Tag, die Arbeitgeber sitzen aber am längeren Hebel, weiß jeder: das bringt alles nichts“, sagt Bamberg. Ab diesem Punkt richte sich die Wut der Bürger dann nicht mehr gegen die Konzerne, sondern gegen die Streikenden selbst. Fehlende Wut auf die Streikenden könnte Streik-Effekt schmälern &bdquo;Wenn nur eine Säule fehlt, wird es schwer für Verdi“, so Bamberg. Noch habe die Gewerkschaft die Unterstützung der Gesellschaft – doch das könne sich jederzeit ändern. Und der Grund dafür könnten ausgerechnet die ausbleibenden Folgen der Streiks sein. Wenn sich rausstelle, dass eine Stilllegung des Bus- und Bahnbetriebs zu keiner Aufregung führt, zu keinen wütenden Anrufen bei Mobiel oder Beschwerden bei Politikern, schmälere das letztlich auch die Wirkung des Ausstandes. Arbeitgeber, die von kurzen Warnstreiks durchaus profitieren, weil sie keine Löhne zahlen müssen, fühlten sich so nicht in der Pflicht, auf die Forderungen der Gewerkschaft einzugehen. Der anvisierte Streikeffekt verpuffe. Problematisch könnten laut Bamberg auch mehrtägige Warnstreiks werden. &bdquo;Eine Woche würden die Menschen das mitmachen“, sagt der FH-Professor – länger nicht. Das ständige Organisieren nage an den Kräften der Menschen und bringe das individuelle Kosten-Nutzen-Verhältnis aus dem Gleichgewicht. &bdquo;Die Gewerkschaften müssen ihren Protest dosieren und das wissen sie auch. Nicht umsonst finden in der Regel keine Streiks zu Beginn der Osterferien statt“, erklärt Bamberg. Auch die Verdi-Bezirkschefin Martina Schu hält von mehrtägigen Streiks wenig. &bdquo;Wir wollen die Bevölkerung hinter uns haben und nicht verärgern“, sagt sie. Angekündigte Streiks geben den Menschen Kontrolle Von Vorteil sei, dass Verdi ihre Streiks rechtzeitig ankündigt, so Bamberg. &bdquo;Dadurch bekommen die Menschen ein Gefühl der Kontrolle, wissen, was auf sie zukommt und können selbst entscheiden, wie sie mit der Situation umgehen. Statt plötzlich frühmorgens dazustehen und nicht zu wissen wohin mit den Kindern und wie komme ich zu Arbeit.“ Durch Corona seien solche Blockaden des Alltags an vielen Stellen abgebaut worden. Allein das Homeoffice ermögliche heute viel mehr Möglichkeiten. Die Menschen seien dadurch noch einmal motivierter nach Lösungen zu suchen, weil sie einfacher und nahbarer erscheinen. Dass in vielen Städten Verdi gestern zusammen mit der Klimabewegung Fridays for Future auf die Straße gegangen ist, hält Bamberg für schwierig. Auch NW-Leser haben sich kritisch geäußert, denn auch in Bielefeld wollten sich die Akteure zusammentun, konnten sich aber nicht mehr rechtzeitig absprechen und haben so zwei verschiedene Kundgebungen abgehalten. Kooperation mit Fridays for Future kratzt an Verdis Glaubwürdigkeit &bdquo;Verdi und Fridays for Future haben teils gegensätzliche Interessen“, sagt Bamberg. Vor allem Beschäftigte in der Automobilindustrie und Arbeitnehmer auf dem Bau müssten aufgrund strenger Klimaschutzvorschriften um ihre Arbeitsplätze fürchten, nicht wenigen drohe ein sozialer Abstieg. &bdquo;Während die Klimabewegung eher noch schärfere Maßnahmen fordert, muss Verdi Arbeitsplätze sichern“, sagt Bamberg. Wenn sich Verdi nun aber aktiv hinter die Klimaaktivisten stellt, kratze das an ihrer Glaubwürdigkeit, so Bamberg. Nicht wenige kritisieren, dass es gerade die Mitarbeiter im öffentlichen Dienst sind, die nicht um ihre Jobs bangen müssen und sich daher der populären Klimabewegung einfacher anschließen können. Schu: &bdquo;Jetzt ist aber auch mal gut. Da wird ein Zusammenhang konstruiert, der jeglicher Grundlage entbehrt. Wir können uns nicht aus der Klimathematik raushalten, niemand von uns.“ Angst, dass der gesellschaftliche Rückhalt dadurch bröckele habe sie nicht.

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