Bielefeld. Der Ernstfall ist da. Das machen Oberbürgermeister Pit Clausen und Sozialdezernent Ingo Nürnberger während der Pressekonferenz am Donnerstag Nachmittag deutlich. „Wir haben es jetzt mit einer großen Risikosituation zu tun", so Nürnberger. „Etwa alle 24 Stunden verdoppelt sich die Zahl der Infizierten." Mehr als 15 Personen seien mittlerweile positiv auf den Coronavirus getestet worden. „Noch sind alles Reiserückkehrer."
Unter ihnen ist nach NW-Informationen auch ein Polizist der Bereitschaftspolizei, der zum Glück keinen Kontakt zu Kollegen gehabt haben soll. Mehr als 300 Personen befänden sich in häuslicher Quarantäne, berichtet Clausen – dreimal so viele wie noch am Mittwoch. „Und es gibt viele Kontaktpersonen, die wir erst noch abtelefonieren müssen. Wir haben nicht mehr die Situation wie vor einem Monat. Wir haben jetzt echte Sorge." Die drastische Konsequenz der verschärften Lage: Die Stadt untersagt ab Sonntag und bis vorerst 30. April alle Veranstaltungen, die öffentlich oder kommerziell sind.
Gesundheitsamt an der Belastungsgrenze
Am Donnerstagmorgen gingen unter der Corona-Hotline der Stadt (05 21) 51 20 00 pro Stunde rund 120 Anrufe ein. Anrufer müssten sich auf Wartezeiten einrichten, heißt es. Vier neue Mitarbeiter verstärkten derzeit das Personal des Gesundheitsamts, das viele andere Aufgaben zurückstellen müsse, um der Flut der Anfragen, Dokumentationen und Verdachtsfälle Herr zu werden, beschreibt Clausen die Situation.
Auch Testungen würden rege in Anspruch genommen. „Wir brauchen vor allem mehr Leute, die bei Verdachtsfällen und Kontaktpersonen hinterhertelefonieren, dokumentieren und Gesundheitsthemen erläutern können, und werden deshalb jetzt die Rettungsdienste als Partner um Hilfe bitten." Die Infizierungslage in der Stadt habe „tierisch an Geschwindigkeit gewonnen". Doch noch gebe es eine Chance der Eindämmung, so der OB.
Alle Veranstaltungen ab Sonntag abgesagt
Um die Ausbreitung zu verlangsamen, beschließt die Stadt nun gravierende Maßnahmen. Clausen: „Wir werden mit Wirkung ab Sonntag, 15. März, 0 Uhr, alle öffentlichen und kommerziellen Veranstaltungen in der Stadt untersagen." Dabei spiele es keine Rolle, ob die Veranstaltung unter freiem Himmel oder in geschlossenen Räumen stattfinde. Die Details der entsprechenden Allgemeinverfügung seien beim Krisenstab der Stadt in Arbeit. Mündlich setzt das Ordnungsamt das Verbot ab sofort durch.
Ausnahmen: Checkliste für Veranstalter
Ausnahmen müssen extra beantragt werden und seien nur möglich, wenn eine Veranstaltung die Punktzahl einer strengen Checkliste nicht überschreite, so Clausen. Sie orientiert sich an Richtlinien des Robert-Koch-Instituts. „Veranstaltungen mit mehr als 100 Teilnehmern in geschlossenen Räumen werden wir nicht mehr genehmigen können", stellt Nürnberger klar. Die Verfügung greife nicht bei privaten und vereinsinternen Veranstaltungen ohne öffentliches Publikum.
Clausen: „Wir empfehlen aber allen in unserer Stadtgesellschaft dringend, sich an der Checkliste zu orientieren, um Übertragungsmomente so gut wie möglich zu reduzieren."Checkliste und Details der Verfügung können ab heute auf www.bielefeld.de eingesehen werden. Ansprechpartner für Veranstalter ist das Gesundheitsamt. Die neue Regelung ist zunächst bis Ende April befristet. Laut Clausen ist es jedoch wahrscheinlich, dass sie darüber hinaus gelten wird.
Auch Theater, Kinos, Osterfeuer sind tabu
Wie weitreichend die Entscheidung der Stadt ist, verdeutlichen Beispiele: „Hut ab" ist gestrichen. Auch der Hermannslauf wurde abgesagt. Kinos, Theater, Diskotheken am Boulevard? Ab Sonntag alle dicht. Klar wird: Das öffentliche Freizeitleben wird auf absehbare Zeit zum Stillstand kommen. Bei den Bühnen und Orchestern reagierte man noch am Donnerstagabend auf die neue städtische Vorgabe: Der Kulturbetrieb ist mit sofortiger Wirkung eingestellt. Betroffen werden auch die Osterfeuer und Gottesdienste sein sowie öffentliche Veranstaltungen in Schulaulas und im Amateursport.
Städtische Mitarbeiter sollen die Einhaltung der Verfügung kontrollieren, kündigt Clausen an. „Wir haben im Notfall im Ordnungs- und Gewerberecht eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten bis zur Möglichkeit, die Gewerbeerlaubnis zu entziehen." Zuallererst appelliere die Stadt aber an jeden Einzelnen. „Ist es wirklich klug, in diesen Zeiten in die Disco zu gehen? Das ist vielleicht nicht schädlich für den jungen Mann, der feiert, aber für seinen Opa, den er ein paar Tage später besucht."
Andere Städte gingen zwar „laxer" mit der Risikolage um, so Nürnberger. Er wünsche sich mehr Einheitlichkeit. „Aber wir sind nicht die einzige Kommune, die so konsequent unterwegs ist." Die Stadt sei sich der enormen Auswirkungen für die heimische Wirtschaft bewusst. „Geschäftsmodelle werden fundamental in Frage gestellt." Clausen: „Aber die Szenarien, was geschähe, wenn wir nichts tun, zwingen uns zum Handeln."
Einbußen bei heimischer Wirtschaft
Bei der Industrie- und Handelskammer fragen unterdessen Unternehmen ununterbrochen nach Beratung und Hilfestellung in der Corona-Krise. „Gastronomen und Caterer haben Tränen in den Augen, weil Großveranstaltungen abgesagt werden müssen", berichtet IHK-Hauptgeschäftsführer Thomas Niehoff. Umsatzeinbußen und Lieferengpässe sehen 60 Prozent der Betriebe, die Geschäftsbeziehungen zu China haben. Jedes dritte Unternehmen plant, Messeteilnahmen zu reduzieren oder abzusagen.
„Wie stark sich das in den Büchern der Unternehmen niederschlagen wird, ist nicht einzuschätzen", so Niehoff. Wichtig sei nun, dass es Sofortmaßnahmen wie Kurzarbeitergeld, Bürgschaften, Kredite oder Steuerstundungen gebe. Auch die Stadt wird das zu spüren bekommen: Ein Rückgang des Gewerbesteueraufkommens könnte dazu führen, dass die für dieses Jahr kalkulierten Überschüsse von 4,4 Millionen Euro zusammenschrumpfen.
MoBiel schützt seine Busfahrer
In MoBiel-Bussen wird es ab Freitag nicht mehr möglich sein, ein Ticket beim Busfahrer zu kaufen. Das Verkehrsunternehmen verweist auf Handy- und Automatenverkauf sowie seine 60 Verkaufsstellen. Auch die vorderen Sitzreihen in den Bussen werden abgesperrt, die Vordertüren bleiben zu, um die Busfahrer vor Infektionen zu schützen. Desinfiziert werden sollen die 270 Busse und Stadtbahnen nicht. Es fehle zudem an Desinfektionsmittel und Personal, so Kai-Uwe Steinbrecher, Technischer Leiter.
Bei den Bädern sehen die Stadtwerke laut Geschäftsführer Martin Uekmann „keinen Handlungsbedarf". Sie bleiben offen. Die Stadt will das Thema Bäder jedoch prüfen.
+++ Aktualisierung +++ Nicht einmal 24 Stunden später, am Freitag, 13. März, informieren die Stadtwerke, die Bäder jetzt doch schließen zu wollen. Ab Montag, 16. März, werden alle Bielefelder Bäder bis auf Weiteres geschlossen sein. Die Oetker-Eisbahn ist bereits dicht.
Inzwischen hat die Stadt auch die erwähnte Checkliste der Allgemeinverfügung veröffentlicht. Hierbei heißt es, unter dem Punkt "Ausnahmeregelung":
"Öffentliche Veranstaltungen können unter folgenden Voraussetzungen ausnahmsweise durch das Gesundheitsamt der Stadt erlaubt werden, wenn für die öffentliche Veranstaltung in der nachfolgenden tabellarischen Bewertungsmatrix zu den Kriterien "Teilnehmende", "Art der Veranstaltung" und "Ort und Durchführung der Veranstaltung" in der Summe nicht mehr als 10 Punkte erreicht werden."

Die Stadt weist darauf hin, dass die Berücksichtigung der Checkliste für private und vereinsinterne Veranstaltungen zur Risikobewertung dringend empfohlen wird.