Für diese Menschen ist der Bielefelder Tisch das zweite Wohnzimmer

Bielefeld. Der Nachname spielt hier keine Rolle, auch ihr Alter wollen sie ungern nennen. "Ich bin hier einfach nur der Peter", sagt der ältere Herr mit dem grauen Ziegenbart, der gegenüber von Gerda und Wilfried Platz genommen hat. Peter und Wilfried trinken Kaffee, Gerda Orangensaft. Sie sind zufrieden, wenn sie hier sind. Die drei sind Gäste beim Bielefelder Tisch. Bei ihnen reicht das Geld nicht für den Supermarkt-Einkauf, sie kommen hierher, um sich Lebensmittel, Kopfsalat, Clementinen und Bananen, abzuholen. Sie essen auch hier. Dreimal in der Woche gibt es in der Einrichtung an der Heeper Straße eine warme Mahlzeit für Bedürftige, dienstags, donnerstags und samstags. "Ich komme gerne zum Tisch", sagt Gerda. Es ist aber nicht nur der Hunger, der die Menschen hierher treibt. Es ist auch das Miteinander. Silvester ist kein normaler Dienstag für die Menschen. Es gibt ein festliches Menü, wie an Weihnachten auch schon. Frikadellen, Lachs-Häppchen, Mousse au Chocolat. Und eine Suppe wird gekocht. An diesen Tagen machen Mitglieder aus Bielefelder Kirchengemeinden das Essen, Silvester ist die Hoffnungskirche an der Hermannstraße an der Reihe. "Für die Gäste ist das Silvester-Essen einer der Höhepunkte im Jahr", sagt Ulrich Wienstroth (57), Chef des Bielefelder Tischs. Knapp 100 Gäste werden in diesem Jahr dabei sein, wie schon am zweiten Weihnachtsfeiertag. Beim Tisch gibt es keine Ferien. "Die Leute haben Hunger, ob Feiertag ist oder nicht", sagt Wienstroth. "Wir sind 365 Tage im Jahr für sie da." Den Menschen fällt zu Hause die Decke auf den Kopf "Matze, haste gleich mal Zeit?", ruft ein Mann aus der Schlange der Lebensmittelausgabe über den Hof. "Ich komm gleich", ruft Matze. Matze ist Matthias Blomeier (61). Er ist Sozialpfarrer, seit sieben Jahren auch zweiter Vorsitzender beim Bielefelder Tisch. Er kennt die Gäste, sie kennen ihn. Blomeier weiß, Weihnachten und Silvester werden in der Einrichtung immer sehr gerne angenommen. "Das sind Tage, an denen die Gäste nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen", sagt er. "Das schlägt aufs Gemüt." Den Menschen falle zu Hause die Decke auf den Kopf. "Sie haben wenig soziale Kontakte und wenn, dann häufig nur bei uns", sagt er. Die Menschen beim Tisch haben verschiedene Handicaps. Viele kämen aus schwierigen sozialen Milieus. Blomeier erinnert sich an einen Gast, der zwei Jahre lang keinen Strom hatte. Im Sommer verteilt er Karten fürs Freibad, damit sich die Menschen dort duschen können. Man sehe den Menschen die Armut oft nicht an, sagt Ulrich Wienstroth, gelernter Logistiker, aber beim Tisch auch in der Rolle des Zuhörers, des Kümmerers. Viele Menschen hier wollen einfach nur jemandem zum Reden, sagt er. "Je mehr Vertrauen sie zu uns haben, desto mehr erzählen sie über ihre Situation." 47.000 Bielefelder sind arm Laut Sozialdezernent Ingo Nürnberger sind etwa 47.000 Menschen in Bielefeld arm. Viele davon kommen hierher. "Der Tisch ist für sie Familienersatz", sagt Blomeier. "Ihr zweites Wohnzimmer." Gerda, Wilfried und Peter könnten Freunde von früher sein. Aber sie kennen sich vom Tisch. Blomeier weiß, mit Essen kriegt man sie alle. Trotzdem erreiche der Tisch nicht alle Menschen. Die meisten weil sie sich schämten. Es gibt aber auch andere Gründe. "Ein Bettler sagte mir mal, dass er Einnahmeausfall hätte, wenn er hierher käme," sagt Blomeier. Für eine Lebensmitteltüte zahlen die Bedürftigen 1,50 Euro, Brot- und Brötchentüten gibt es für 1 Euro. Zum Essen darf jeder kommen. "Wir laden alle ein, hierher zu kommen", sagt Blomeier. Bis zu 1.000 Menschen versorgt der Tisch pro Woche, die meisten sind über die Jahre schon Stammkunden. In der Fundgrube auf dem Gelände können sie Mixer oder Kaffeemaschinen für wenig Geld bekommen. Es ist bewusst nicht umsonst. "Was kostet, ist auch was wert", sagt Blomeier. Die Gäste sollen das Gefühl haben, sich auch etwas kaufen zu können. Aber auch der Tisch braucht das Geld. Das Gebäude gehört der Stadt, der Tisch zahlt Miete an den Immobilienservicebetrieb (ISB), jedes Jahr gehen 60.000 Euro an fixen Kosten weg. "Wir sind auf Spenden angewiesen", sagt Ulrich Wienstroth. Soziale Kontrolle ist groß 2021 feiert der Tisch sein 25-jähriges Bestehen. Eigentlich sollte es so eine Einrichtung in einer reichen Stadt wie Bielefeld nicht geben müssen, findet Blomeier. "Wir übernehmen die Aufgabe der Stadt." Das ärgert ihn. Aber diese Menschen im Regen stehen lassen - undenkbar für Blomeier und Wienstroth. Einige Gäste seien schon in dritter Generation da. "Armut verfestigt sich", sagt Wienstroth. Er ist seit 1998 dabei, so lange am Stück war er in noch keinem anderen Job. Er kann mit Menschen wie Gerda, Wilfried und Peter. Er erzählt von Brunhilde, die ihn immer herzlich gedrückt habe, wenn sie zum Essen kam. Aber es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein. "Hier geht es auch mal rauer zu", sagt Wienstroth. "Aber nur selten müssen wir die Polizei rufen, das meiste regeln wir so." Die soziale Kontrolle ist groß, wenn Stammkunden nicht da sind, haken Blomeier oder Wienstroth nach. "Ich war schon bei zwei Wohnungsaufbrüchen dabei", sagt Blomeier. Und beide Male lag ein Gast tot in der Wohnung. Es sind aber nicht nur die beiden, die beim Tisch sicherstellen, dass die Menschen etwas zu Essen bekommen. "70 Ehrenamtliche wuppen die Arbeit hier", sagt Blomeier. "Ohne die wären wir hier nichts." Das weiß auch Sozialdezernent Nürnberger. "Das ehrenamtliche Engagement der Menschen beim Tisch und anderen Lebensmittelausgabestellen ist bewundernswert", sagt er. Jeden Tag ist jemand da, die Supermärkte werden abgefahren, Lebensmittel abgeholt. Die Bereitschaft, etwas abzugeben, sei groß, sagt Blomeier. "Die Märkte müssen die Lebensmittel dann nicht entsorgen." Kurz vor Weihnachten kamen 65 Kisten mit Salat von einem niedersächsischen Feinkost-Hersteller an. An Haustüren werde nicht gesammelt, sagt Wienstroth. Caterer aus Großküchen stellen Essen zur Verfügung, drei bis vier Mitarbeiter des Tisches kochen. "Das hat bei uns schon Restaurantqualität." "Irgendwann ist das Geld alle." Sieben weitere Lebensmittelausgabestellen gibt es in Bielefeld. Zum Tisch dürfen Erwachsene kommen, die in Mitte, Gadderbaum, Oldentrup und Schildesche wohnen, alle anderen sind den anderen Einrichtungen zugeordnet. Bezieher von Arbeitslosengeld II, Hartz IV oder mit entsprechend niedrigem Einkommen bekommen Obst, Gemüse, Molkereiprodukte, Aufschnitt, Brot und Brötchen, manchmal auch Fleisch. Anfang des Monats, wenn das Geld vom Amt da sei, kämen weniger Gäste, sagt Wienstroth. Mitte des Monats steigt die Zahl. "Irgendwann ist das Geld alle." Gerda, Wilfried und Peter kennen das. Sie sind froh, dass es für sie hier eine Tasse Kaffee oder Orangensaft gibt.

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