Nach Eklat in KZ-Gedenkstätte

Hitlergruß und Hakenkreuz in OWL-Schulen: „Die Tabus gelten nicht mehr“

Wie verbreitet sind Rechtsradikalität, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit bei Jugendlichen? Eine Spurensuche durch OWL liefert viele Antworten – beruhigen können die nicht.

Hakenkreuz auf dem Schulhof: Der Rechtsruck, der durch Deutschland geht, ist auch bei Jugendlichen angekommen, zeigt eine Spurensuche quer durch OWL. | © imago/allOver

Anneke Quasdorf
25.04.2025 | 27.06.2025, 10:49

Es war eine Meldung, die in ganz Deutschland für Fassungslosigkeit, Entsetzen und Empörung sorgte: Vor drei Wochen berichtete diese Redaktion über Schüler aus Bielefeld, die bei einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen „Ausländer raus“ gesungen hatten. Im Zentrum steht seitdem vor allem die Frage: Was ist los mit jungen Menschen, die so etwas tun? Eine Recherche quer durch OWL, Dutzende Interviews mit Schulleitern, Lehrkräften, Sozialarbeitern, Verfassungsschutz, Extremismusexperten und Jugendlichen, liefern Antworten. Beruhigen können die nicht.

Ein quadratmetergroßes Hakenkreuz, als Graffito gesprüht auf den Schulhof. Hitlergrüße, gezeigt in der großen Pause. Rassistische und menschenverachtende Cartoons und Bilder von Adolf Hitler, verbreitet in Klassenchats von Fünftklässlern. Regenbogenfahnen in der Aula, ein ums andere Mal heruntergerissen und zerstört. Hakenkreuze, geschmiert auf die Stirn von Abiturienten bei ausgelassenen Feierlichkeiten im Rahmen der Abschlusswoche. „Hitler auf die Eins“-Parolen, gekritzelt an die Türen und Wände von Schulklos. Die jahrhundertealte, antisemitische Beleidigung „Judennase“, geraunt auf dem Flur. Und als Spitze die Entgleisung in Bergen-Belsen.

Auf gezielte Nachfrage berichten Schulleitungen jeder Schulform und in jedem Kreis in OWL von diesen Vorfällen. Sven Christoffer, Vorsitzender des Lehrerverbandes Lehrer NRW sagt unumwunden: „Wir haben an Schulen ein Problem mit Antisemitismus. Da wird gesagt und getan, was jahrzehntelang unsagbar und unmachbar war. Die Tabus gelten nicht mehr.“

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NRW erfasst Straftaten in Schule nicht dezidiert

Wie oft es zu entsprechenden Straftaten an Schulen kommt, lässt sich nicht sagen. Denn NRW erfasst die Daten nicht dezidiert für Schule, sondern für alle Bildungseinrichtungen. Außerdem wird Schule als Tatort gewertet, sodass auch von schulfremden Personen außerhalb der Unterrichtszeit begangene Taten in die Statistik einfließen – ein Missstand, den die Landesschülervertretung NRW anprangert. „Das verhindert doch schon im Ansatz eine offene Thematisierung des Ausmaßes“, sagt Sprecher Elias Bala.

452 Straftaten erfasste die Statistik für 2024, dabei handelt es sich überwiegend um das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (378 Fälle) und Volksverhetzung (29 Fälle). Bei der Meldestelle Rias NRW, die antisemitische Vorfälle erfasst, zeigt sich in den vergangenen Jahren dagegen ein stetiger Anstieg explizit in Schule. Wurden hier für 2022 35 antisemitische Vorfälle in Bildungseinrichtungen dokumentiert, davon 21 in Schulen, waren es 2023 bereits 69 Ereignisse, davon 39 an Schulen. Der Jahresbericht für 2024, der die Zeit nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 umfasst, wird erst im Mai veröffentlicht. Schon jetzt aber sprechen die Verantwortlichen von einem neuerlichen Anstieg der Zahlen.

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Das Ausmaß wirft nicht nur erneut die Frage auf, wie verbreitet Rechtsradikalismus, Antisemitismus, Demokratiefeindlichkeit und die dazugehörige Propaganda bereits bei Jugendlichen sind. Es zeigt auch, wie schlecht es um Wissen und Bildung, Achtsamkeit und die Fähigkeit zu Empathie und Respekt in dieser Altersgruppe bestellt ist.

Leiter einer Förderschule zeigt jeden Vorfall an

Klar zeigt das „Lagebild Rechtsextremismus“ für NRW aber: Die rechtsextremistische Szene wird jünger und digitaler. Gezielte Aktionen werden als Inhalte für Social Media genutzt, häufig gehen die Videos viral. Und auch das aus den USA importierte Konzept der Active Clubs ist längst in NRW und sogar in OWL angekommen. Hier werden Jugendliche gezielt mit gemeinschaftsstiftenden Freizeitangeboten wie Kampfsport oder Wandern angesprochen. Auch andere Organisationen wie „Freischar Westfalen“ oder „Westfalens Erben“ sind diesen von Verfassungsschützern „aktionsorientierten Jugendgruppen“ zuzuordnen.

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Auch Schulleiter aus OWL haben Schüler im Blick, denen sie zunehmend ernsthafte Gesinnungen attestieren. „Ich habe hier drei, vier Schüler mit eindeutig rechtsextremen und antisemitischen Tendenzen“, sagt der Leiter einer Förderschule in OWL. „Die haben die Gesinnung durch das Elternhaus.“ Beweise, dass es diese Schüler sind, die immer wieder Hakenkreuze oder die Zahl 88 als Symbol für den getarnten Hitlergruß in die Schule schmieren, hat er bislang nicht. „Aber ich bringe jeden noch so kleinen Vorfall zur Anzeige.“

Auf der anderen Seite aber gibt es auch viele Jugendliche, die schlichtweg keine Ahnung haben von aktuellem politischen Geschehen, von Geschichte, Holocaust und Nationalsozialismus, von all den Gesten und Symbolen, die sie für ihr pubertäres Muskelspiel, ihre Grenzverletzungen und Provokationen verwenden. Sie wissen nur: Die entsetzte Reaktion ist ihnen sicher, und das ist alles, worauf es ihnen ankommt.

Nils Bendrien erlebt diese jungen Männer im Freizeitzentrum Baumheide, das er leitet. Der Stadtteil von Bielefeld ist ein Brennpunkt in Sachen Kriminalität und Gewalt. Ein Drittel der Menschen hier wählten die AfD, obwohl, oder gerade weil, knapp 73 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben. Rassismus, Menschenfeindlichkeit, Aggression und gezieltes Abwerten sehen Bendrien und seine Mitarbeiter häufig.

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Jugendliche wissen genau, was sie mit dem Hitlergruß auslösen

„Und die Jugendlichen wissen auch sehr genau, was sie auslösen, wenn sie hier sagen, dass sie die AfD wählen würden oder den Hitlergruß zeigen.“ Aufmerksamkeit und Empörung, provozieren und anecken sind die Ziele, „und mit diesen Parolen oder Gesten schafft man das sicher, das kann niemand ignorieren“.

Auch im Jugendzentrum „Life House“ in Stemwede im Norden des Kreises Minden-Lübbecke kennt man das Gebaren gut. „Jugendliche provozieren“, sagt Sozialarbeiter Lars Schulz. „Dem muss man klare Grenzen setzen. Gute Jugendarbeit heißt aber, das zu tun, ohne Türen endgültig zu schließen. Im Gespräch zu bleiben. Vieles auszuhalten.“

Und aushalten muss Schulz viel: rechte Parolen, Abwertung von Mädchen und Frauen, homophobe Sprüche. „Wir haben hier viele Jugendliche aus Spätaussieder-Familien. Die sind kulturell seit Generationen so geprägt. Das zu ändern, ist schwierig und vor allem braucht es Zeit.“ Viele Gespräche und Diskussionen gehören dazu. „Und immer wieder klarzumachen: Ich sehe das anders. Hör dir meine Meinung an.“

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Schüler in Sennestadt erleben häufig Rassismus

Regelmäßige Demokratieprojekte, konsequente Erziehung und Vermittlung von Werten, klare Kommunikation mit den Eltern, das ist der Weg, den Schulleiterin Patricia Drewes geht. Sie leitet die Hans-Ehrenberg-Schule im Bielefelder Stadtteil Sennestadt. Über 25 Prozent der Stimmen gingen hier bei der Bundestagswahl an die AfD. Viele Schüler haben bereits Anfeindungen und Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Hautfarbe erlebt. Das zeigt eine Umfrage, die anlässlich des Projekttags „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ gemacht wurde.

Schulleiterin Patricia Drewes verfolgt eine klare Strategie. - © Privat
Schulleiterin Patricia Drewes verfolgt eine klare Strategie. | © Privat

Eine grundsätzlich rechtsradikale Einstellung als Hintergrund für diese Entwicklung sieht Drewes nicht. „Schüler, die rechtsextreme Symbole verwenden, sind häufig orientierungslos, weil sie über Social Media sehr einseitig und wenig differenziert mit politischen Statements in Kontakt kommen.“ Außerdem sei die Zeit, die für historisch-politische Bildung zur Verfügung stehe, begrenzt.

Und so ist die Bestürzung zu erklären, wenn im Gespräch eine Konfrontation mit den historischen Wurzeln rechtsradikaler Parolen stattfindet. „Wird dann noch klar, dass es sich zum Beispiel bei einer Hakenkreuzschmiererei um eine Straftat handelt, bei der der Staatsschutz ermittelt, ist der Schreck groß.“ Besser macht die Unwissenheit als Motiv die Situation in Drewes Augen nicht. „Auch ohne Überzeugung dahinter tragen diese Taten dazu bei, dass rechtsradikale Symbole oder Gesten normalisiert werden, wenn man sie nicht verfolgt.“

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Schulleiterin aus Espelkamp fordert Änderung des Lehrplans

Auch Jürgen Franke hält es mit klaren Regeln und strikten Disziplinarverfahren. Er leitet die Realschule Freiligrathschule in Lage im Kreis Lippe, einer weiteren AfD-Hochburg in OWL. „Wir haben hier viele Schüler, die aus Spätaussieder-Elternhäusern stammen, die sich offen zur AfD bekennen. Und die tragen, was sie zu Hause hören, natürlich unreflektiert auch in die Schule.“ Spürbar ist das für Franke vor allem in den immer wieder gleichen Diskussionen. „Da werden ohne Ende AfD-Parolen abgespult. Aber wenn man tiefer bohrt, genauer nachfragt, ist da nichts, außer ’Bild’-Überschriften und Tiktok-Inhalten.“

Es ist ein Fehler, der auch im System liegt. Denn an den meisten Schulen werden Nationalsozialismus und Holocaust lehrplankonform erst ab der neunten oder zehnten Klasse thematisiert. „Und das ist heutzutage eindeutig zu spät“, sagt Marie-Luise Schellong, Leiterin des Söderblom-Gymnasiums in Espelkamp im Kreis Minden-Lübbecke – einer weiteren AfD-Hochburg. Auch sie ist immer wieder erschüttert über die Unwissenheit der Schüler. „Die posten ein Konterfei von Adolf Hitler im Klassenchat und wissen nicht, für was dieser Mann steht. Holocaust und NS sind schon lange keine Tabufelder mehr. Wir müssen den Schrecken dieser Zeit eher deutlich machen, ohne zu verstören. Dafür gibt es altersgerechte Medien.“

Schulleiterin Marie-Luise Schellong ist politisch aktiv. 2022 sprach sie auf einer Kundgebung gegen den Krieg in der Ukraine. - © Joern Spreen-Ledebur
Schulleiterin Marie-Luise Schellong ist politisch aktiv. 2022 sprach sie auf einer Kundgebung gegen den Krieg in der Ukraine. | © Joern Spreen-Ledebur

Doch trotz allen Engagements – immer wieder blitzt in den Gesprächen auch der Zweifel auf, inwieweit Schule überhaupt der Entwicklung gegensteuern kann, dass immer weniger Erziehung und Wertevermittlung durch Elternhäuser stattfindet, während Abstumpfung, Verrohung und Demokratiefeindlichkeit durch den grenzenlosen Medienkonsum stetig zunehmen. „Am Ende muss es doch nicht wundern, wenn Jugendliche, die von Tiktok-Live-Videos von Hinrichtungen oder Folter gewohnt sind, keine Bestürzung beim Anblick von leeren Waggons in einer KZ-Gedenkstätte wie Bergen-Belsen empfinden“, sagt ein Schulleiter, der namentlich nicht genannt werden möchte. „Und die nur noch zu erreichen, indem man sie schockt, kann nicht die Lösung sein – aber was dann?“

„Haben bald die Baseballschläger-Kultur der 90er zurück“

Benjamin Winkler kennt diese Unsicherheit und Überforderung aus Schulen. Er ist Fachreferent bei der Amadeu-Antonio-Stiftung, die zahlreiche Projekte zur Stärkung einer demokratischen Zivilgesellschaft betreibt. Eins davon ist das Programm „Starke Lehrer – starke Schüler“, das Lehrkräfte fit machen soll im Umgang mit Demokratiefeindlichkeit, Rassismus und Extremismus.

In NRW gibt es das Projekt bislang nicht, was Winkler sehr bedauert. „Uns erreichen häufig Hilferufe von Klassenleitungen, die der Lage nicht mehr Herr werden.“ Winkler leitet das Stiftungs-Büro in Sachsen. „Und natürlich ist die Situation in den neuen Bundesländern sehr viel fortgeschrittener und besorgniserregender. Doch der Westen holt auf. Wenn wir nicht aufpassen, wenn nicht alle Akteure, Schule, Jugendarbeit, Politik, Eltern, an einem Strang ziehen, dann haben wir sehr bald die Neonazi-Baseballschläger-Kultur der 90er Jahre zurück.“

Oft trifft Winkler in den Schulen auf die immer gleiche Situation: „Da gibt es meist drei sehr engagierte Lehrkräfte, vereinzelte Projekttage zu dem Thema, aber kein umfassendes Konzept und wenig Rückhalt aus dem übrigen Kollegium.“ Auch das Thema Elternkommunikation ist nach Winklers Ansicht eine riesige Baustelle. „Hier sind Lehrkräfte viel zu wenig geschult. Das müsste längst ein fester Bestandteil im Lehramtsstudium sein – denn ohne die Eltern wird es langfristig niemals gehen.“

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Digitalbeauftragte fordert Bußgelder für Eltern

Dieser Ansicht ist auch Silke Müller, Schulleiterin, Autorin, Digitalbeauftragte von Niedersachsen und Gutachterin für das Bundesbildungsministerium. Allerdings setzt sie nicht nur auf gute Kooperation und Kommunikation. „Es gibt so viele Entwicklungen rund um Jugendliche, allen voran der Social-Media-Konsum, bei denen man sich fragt: Wo sind da die Eltern? Warum regeln die das nicht?“

In ihrer Arbeit als Schulleiterin erlebt Müller immer wieder, wie wenig Einblick Eltern in die Handys ihrer Kinder haben, nichts von der digitalen Welt wissen, in der sich ihre Kinder Tag für Tag bewegen und den Einflüssen, denen sie ausgesetzt sind. „Und das gilt auch für rechtsextremistische Inhalte. Kinder und Jugendliche kriegen das alles mit und stehen massiv unter dem Einfluss der Szene, die sie gnadenlos manipuliert. Und das ist am Ende eine Entwicklung, die demokratiegefährdend ist.“

In den Augen Müllers wäre es deshalb dringend notwendig, zum einen Eltern zur Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld zu zwingen. „Da hat der Staat in Sachen Zivilschutz am Ende eine Fürsorgepflicht. Und was spricht dagegen, hier zum Beispiel mit Bußgeldern zu arbeiten? Das kriege ich auch, wenn ich meine Kinder nicht anschnalle. Ihre Sicherheit ist im Netz aber nicht weniger gefährdet.“