Große Ehre für Bielefelder Forscher: Ein unermüdlicher Seismograph der Gesellschaft

Bielefeld/Berlin. Er ist einer der bekanntesten Wissenschaftler der Uni Bielefeld, oft etikettiert als Frühwarnsystem der Gesellschaft: Wilhelm Heitmeyer (80), Pädagoge, Soziologe und Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), bekleidet seit Jahrzehnten die Rolle eines Seismographen, der bedrohliche Entwicklungen früh aufspürt und beschreibt. Für seine Forschung zu Extremismus, Gewalt und ethnisch-kulturellen Konflikten erhielt der emeritierte Professor jüngst in Berlin den Bundesverdienstorden 1. Klasse. &bdquo;Darüber freue ich mich, eine schöne Anerkennung“, sagt Heitmeyer im Gespräch mit dieser Zeitung. Vor 20 Jahren habe er den NRW-Verdienstorden abgelehnt, mit dem Hinweis, so eine Auszeichnung gebühre eher &bdquo;Pflegekräften im Kinderhospiz“, als einem Angehörigen eines ohnehin privilegierten Berufsstands. Die aktuelle Auszeichnung aber nahm er aus den Händen von Frank-Walter Steinmeier gern entgegen. Auch weil ihm der ebenfalls aus Ostwestfalen-Lippe stammende Bundespräsident im Sommer einen &bdquo;sehr persönlichen“ Brief zum 80. Geburtstag schrieb. Heitmeyer, Pädagoge mit Schwerpunkt Sozialisation, hat Entwicklungen in unserer Gesellschaft schon mit empirischen Studien belegen können, lange bevor die Politik darauf aufmerksam wurde oder gar Handlungsbedarf sah. Dabei hat sich seine Arbeit nicht auf das Aufspüren rechtsextremer und gruppenfeindlicher Einstellungen beschränkt, etwa unter Jugendlichen, Fußballfans oder der berühmten &bdquo;bürgerlichen Mitte“. Gerade seine Studien zur &bdquo;politisierten Religion“ in Folge des Terrors von 9/11 (&bdquo;das war ein Kipppunkt“) und islamistischer Orientierungen türkischstämmiger Jugendlicher zeigten, dass das ehemalige SPD-Mitglied (bis 1992, als sich die Asyldebatte verschärfte) sich und seine Forschungsgebiete nicht in Schubladen stecken lässt. Rassistisches Denken in der Mitte der Gesellschaft &bdquo;Das brachte mir viel Kritik, viele Anfeindungen aus dem linken Spektrum ein“, erinnert er sich. Komplett auf Distanz zur SPD sei er aber nicht gegangen, schon wegen der eigenen &bdquo;Arbeiter-Sozialisation“. Aufgewachsen in Nettelstedt, war Heitmeyer nach Abitur und Studium zunächst als Schriftsetzer, dann als Hauptschullehrer tätig. Dann nahm seine wissenschaftliche Laufbahn Fahrt auf. Eine klassische 70er-Jahre-Aufstiegskarriere: &bdquo;Ich war ein Kind der Bildungsreform.“ &bdquo;Unsere Studienergebnisse haben in der Regel zu erhöhter Kritik und einer Haltung des Nicht-Wahrhaben-Wollens geführt“, erinnert er sich an die Anfänge des IKG. Seitens Islamverbänden, linker Parteien, evangelischer Pastoren. Das IKG sieht er unter der Leitung seines Nachfolgers Andreas Zick gut aufgestellt. Vieles sei gut auf dem Weg, damit die dort geleistete Arbeit internationale Sichtbarkeit erhalte. Bis heute sind Heitmeyers Theorien Lernstoff der gymnasialen Oberstufe. In den Pädagogik-LKs der Republik paukt und interpretiert man seine Begriffe und deren Interpretation wie &bdquo;gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, &bdquo;Desintegrationspotenziale“, &bdquo;Parallelgesellschaft“. Seine Rolle als Seismograph festigte Heitmeyer endgültig mit einer Langzeitstudie zwischen 2002 und 2011 zur Entwicklung von Vorurteilen gegenüber Minderheiten, die er mit einer Gruppe junger Wissenschaftler auflegte. Unter dem Titel &bdquo;Deutsche Zustände“ erschien jedes Jahr bei Suhrkamp ein Band mit Ergebnissen, Interviews, Essays – und erreichte eine große Öffentlichkeit. Beunruhigender Befund: Rassistisches und menschenfeindliches Denken sind in der bürgerlichen Mitte angekommen. &bdquo;Die AfD strebt nichts weniger als einen Systemwechsel an“ Seit Jahren befasst sich der Professor mit den Taktiken der AfD, deren Agieren er mit dem Begriff des &bdquo;autoritären Nationalradikalismus“ präziser beschrieben findet. Die Formulierung, es handele sich um &bdquo;Rechtspopulismus“, hingegen hält er für verharmlosend. &bdquo;In Zeiten multipler Krisen seit 2000, mit ihrem Überforderungspotenzial, sind die Menschen anfällig für rassistisches und nationalistisches Gedankengut“, resümiert er. Lesen Sie auch: Bielefelder Soziologe zum Fall Stalag: &bdquo;Die Brandmauer zur AfD wackelt“ In einem im &bdquo;Spiegel“ erschienenen Artikel mit der Überschrift &bdquo;Die durchrohte Gesellschaft“ fasst Heitmeyer die Hauptthesen seines 2023 erschienenen Buchs zusammen. Etwa, wie Verrohung und Gewalt unseren Alltag beeinträchtigen. Dass Gewalt gegenüber Lehrern, Polizisten, Justizbeamten, Pflegekräften und Sanitätern zunimmt und sozusagen als Nebeneffekt den fragwürdigen &bdquo;Rezepten“ der AfD zu einer &bdquo;Normalisierung“ verhilft. Man müsse die Gesellschaft, vor allem die Institutionen, resilienter machen gegen die schlichten, stigmatisierenden Lösungen. Zugleich aber die von Gewalt Betroffenen ernst nehmen, sich hinter sie stellen. Ein Beispiel: Schulleitungen müssten hinschauen, Übergriffe auf Lehrer nicht kleinreden, aus Angst vor einer Beschädigung des Rufs ihrer Schule. Orte der persönlichen Begegnung fehlen Die AfD habe nichts weniger im Sinn, als einen &bdquo;Systemwechsel“. Sie versuche dies, indem sie die Institutionen durchwirke. Wir alle würden, so Heitmeyer, vor allem auf die Wahlergebnisse dieser Partei starren. Dabei aber verkennen, dass Polizei, Justiz, Bildungswesen, Medien und Kultur sehr anfällig seien für rechte Positionen. Das könnte Sie auch interessieren: Bundesverdienstkreuz für Bielefelder Konfliktforscher: Ehre für einen Wissenschaftler mit Haltung Die AfD besitze Attraktivität für erhebliche Teile der Bevölkerung, die sich selbst nicht als rechtsextrem oder faschistisch wahrnähmen, so der Konfliktforscher. Das habe viel mit den Unsicherheitserfahrungen der letzten Jahrzehnte mit ihren fortlaufenden Krisen zu tun: &bdquo;Wenn keine zuversichtliche Zukunft in Sicht ist und die Gegenwart als höchst unsicher wahrgenommen wird, gewinnt das Autoritäre und Nationalistische als gefühltes Sicherheitsversprechen an Gewicht.“ Die zentrale Frage, die zum Gegensteuern beantwortet werden müsse, sei doch: Was treibt eine Gesellschaft auseinander, was hält sie zusammen? Die Emotionalisierung von Problemen durch die AfD sowie deren Spiel auf der Social-Media-Klaviatur sind weitere Entwicklungen, die man im Blick haben müsse. Auch die &bdquo;Zersplitterung der Öffentlichkeit“ durch das Fehlen von Orten der persönlichen Begegnung. Für eine menschliche, gerechte, tolerante Gesellschaft müsse jeder die Stimme erheben – auch im nahen Umfeld, wo das meist mit &bdquo;hohen sozialen Kosten“ verbunden sei, appelliert Heitmeyer. Ärgert es ihn, dass Gesellschaft und Politik oft eine lange Leitung haben und nur verzögert auf Warnungen reagieren? &bdquo;Man wird ein bisschen mürbe, muss aber trotzdem dran bleiben“, sagt er. Wissenschaft habe schließlich eine gesellschaftliche Verantwortung. Die Gesellschaft wird also weiter mit ihm rechnen können.

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