
Kreise Lippe/Paderborn. Missbrauch, Pornografie und Vergewaltigungen - über Jahre hinweg sind sie schreckliche Realitäten auf dem Campingplatz „Eichwald" in Lügde-Elbrinxen, wo Kinder zu Opfern sexueller Übergriffe werden. Der Fall löst 2019 weitreichendes Entsetzen aus. Im Zuge der Ermittlungen wird bekannt, dass ein Missbrauchsopfer selbst zum Täter wird.
Max G. gesteht, drei Kinder, die er aus seiner Schule kennt, missbraucht zu haben. Zwischen seinem 14. und 16. Lebensjahr führt er sexuelle Handlungen aus, die als gewaltlos und einvernehmlich beschrieben werden. Der Teenager hat selbst zwischen seinem 10. und 14. Lebensjahr sexuellen Missbrauch durch einen der verurteilten Haupttäter, Mario S., erlebt.
Wie bestimmte Umstände ein Opfer des Lügde-Skandals zum Täter werden lassen können, darüber sprechen Birgitt Gottwald und Thorsten Fust, der Anwalt von Max G., in der neuesten Folge von „OstwestFälle", dem True-Crime-Podcast der „Neuen Westfälischen". Sie gehen auch darauf ein, auf welcher Grundlage die Justiz den Jugendlichen freigesprochen hat.
Opfer in Lügde wird zum Täter - der Fall im Überblick:
- Der Missbrauchsfall Lügde sorgt im Jahr 2019 bundesweit für großes Aufsehen. Im Zuge der Ermittlungen kommt heraus, dass ein Jugendlicher, der selbst sexueller Gewalt ausgesetzt war, zu einem Täter wird.
- Max G. gesteht, drei Jungen, die er von seiner Schule kennt, missbraucht zu haben. Die Taten sollen ohne Gewalt und einvernehmlich stattgefunden haben.
- Bei seiner Vernehmung gibt der Jugendliche an, von Wiederholungszwängen betroffen zu sein. Daraufhin wird er in die JVA Herford zur Untersuchungshaft gebracht.
- Da Pädokriminelle es in der Haft nicht leicht haben, wird für Max G. eine Legende gestrickt. Diese gerät jedoch ins Wanken, woraufhin er zunächst in eine Kinderpsychiatrie kommt.
- Am 19. Oktober 2019 muss sich Max G. vor Gericht verantworten. Nach drei Prozesstagen wird er freigesprochen, obwohl er ein Geständnis abgelegt hat.
Ehemaliges Opfer im Lügde-Fall wird zum Täter
Max G., damals zehn Jahre alt, wird über einen Zeitraum von zwei Jahren schwer von Mario S. auf öffentlichen Toiletten missbraucht. Für den Jungen entwickelt sich das Unfassbare zur traurigen Normalität, sodass er die Misshandlungen fortsetzt, obwohl er große körperliche und seelische Schmerzen erleidet. Für ihn sei das nicht schlimm gewesen, „weil er so aufgewachsen ist", erklärt sein Anwalt.
Im Alter von 14 bis 16 Jahren kommt es zu Treffen mit Schulfreunden, mit denen es zu gegenseitigen Manipulationen an den Genitalien kommt. Es gab drei Fälle, in denen er dies mit Kindern unter 14 Jahren gemacht habe.
Seine Eltern ahnen während all dieser Zeit nichts von dem, was geschieht, und sind überzeugt, dass ihr Sohn sicher und gut aufgehoben ist.
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U-Haft in JVA Herford, danach Kinderpsychiatrie

Während seiner Vernehmung offenbart Max G. aus seiner kindlichen Perspektive den Drang, Handlungen zu wiederholen, die er auch mit Mario S. ausführen musste, berichtet sein Anwalt. Daraufhin stellt die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Untersuchungshaft, und Max G. kommt in die JVA Herford, wo ihm der Pflichtverteidiger Thorsten Fust zur Seite gestellt wird.
In Haftanstalten sind Pädokriminelle, die Kinder sexuell missbraucht haben, häufig Gewalt ausgesetzt. Daher wird für Max G. eine Legende erfunden: Er soll behaupten, wegen Diebstahls inhaftiert zu sein. Diese erfundene Geschichte beginnt jedoch nach einiger Zeit zu bröckeln, und es tauchen Fragen nach den wahren Gründen seiner Inhaftierung auf. Nachdem die Gefängnispsychologin Bedenken äußert, wird eine Haftprüfung veranlasst.
In deren Folge wird der Jugendliche aus der Haft entlassen und kommt in eine Kinderpsychiatrie. Von der aus geht es weiter in eine geschlossene Wohnform, wo er dann weiter behandelt wird.
Wegen Missbrauchs vor dem Landgericht Paderborn
Am 10. Oktober 2019 muss Max G. sich vor dem Landgericht Paderborn verantworten. Er wird des sexuellen Missbrauchs von drei Jungen, die alle jünger als 14 Jahre sind, beschuldigt.
Der Prozess dauert drei Tage und führt zum Freispruch des Jugendlichen. Die Richter stellen bei ihm nicht die für eine Verurteilung notwendige Verantwortungsreife fest. Das Gericht betont jedoch, dass es sich um einen „besonderen Einzelfall" handelt, der nicht ohne Weiteres auf andere Fälle übertragbar ist.
Neues Leben für Lügde-Opfer
Der Jugendliche erhält die Chance auf einen neuen Lebensabschnitt. Er beginnt eine Ausbildung, schließt diese auch ab und arbeitet jetzt als Tischler. „Er ist auf dem Weg, ein junger Mann zu sein", so sein Anwalt Thorsten Fust. Zum Vater und zu seinen Geschwistern pflege er ein gutes Verhältnis. Den Kontakt zu seiner Mutter habe er inzwischen abgebrochen.
Zudem werde er weiterhin betreut, wodurch das Risiko einer Wiederholungstat nicht mehr bestehe.
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