
Bielefeld/Gütersloh. Es ist die Silvesternacht 2009. Während die Menschen im Kreis Gütersloh ausgelassen das neue Jahr begrüßen, wird die 18-jährige Müdje auf einem Feldweg in Harsewinkel eiskalt ermordet. Erstochen von ihrem eigenen Ehemann Önder B. Bei der Tat wird von einem sogenannten Ehrenmord gesprochen. In der neuen Folge des True-Crime-Podcasts "Ostwestfälle" der Neuen Westfälischen spricht Beatrice Tappmeier über den Begriff des Ehrenmordes, der als durchaus problematisch gilt und erklärt, was Machtstrukturen mit ihm zu tun haben.
Als Ehrenmord wird eine Tötung definiert, die meistens ein Mann an seiner Ehefrau begeht, um die Ehre wiederherzustellen. Oftmals geschieht dies nach einer Trennung oder Scheidung, erklärt Tappmeier. Ehrenmorde kommen vermehrt in Regionen vor, die patriarchale oder konservative Werte vertreten.
Die Beweggründe für die Gewalttaten oder gar Morde sind toxische Vorstellungen von Männlichkeit, Ehrverlust und Stolz sowie fundamentalistische Moralvorstellungen. Werden diese verletzt, so ist die Tat im Verständnis des Täters gerechtfertigt. Der Mord dient dazu, die Familienehre wiederherzustellen - in Ausnahmefällen auch mithilfe von Familienmitgliedern. Männer können - wenn auch nicht so häufig wie Frauen - Opfer von Ehrenmorden werden.

Laut Heinrich-Böll-Stiftung werden fast alle Ehrenmorde in Deutschland von muslimischen Migranten begangen. Dennoch handelt es sich hierbei um kein islamisches Phänomen. Auch in Süditalien, Brasilien und Indien werden Morde zur Wiederherstellung der Ehre begangen. Der islamische Glaube toleriert solche Morde jedoch nicht.
Der grausame Mord ist nun Thema in der neuen Episode von "OstwestFälle - dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen".
Tötungsdelikt durch Familienmitglieder im Podcast
Der Begriff Ehrenmord wird kritisch gesehen, da er das Tatmotiv verharmlost oder gar legitimiert. Die allermeisten Gewalttaten gegenüber Frauen haben nichts mit Ehrenmorden zu tun. Es sind Femizide. Als Femizid bezeichnet man die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts.
Laut Max-Planck-Institut kam es zwischen 1996 und 2015 zu 108 Ehrenmorden in Deutschland. Aktuellere Zahlen gibt es zu dem Phänomen nicht. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Vermehrt kommt diese Form des Tötens in patriarchalen Strukturen vor, weiß Expertin Beatrice Tappmeier. Die Leiterin des autonomen Frauenhauses in Bielefeld ist während der Aufnahme der neuesten "Ostwestfälle"-Episode sichtlich mitgenommen.
Rückblick: Es ist der 2. Juli 2007. Das junge Paar heiratet in der Türkei. Es ist eine arrangierte Hochzeit - eine Zwangsheirat. Die Ehe besteht nur auf dem Papier. Drei Wochen nach der Vermählung fährt Müdje wieder zurück in ihre Heimat nach Ostwestfalen. Önder B. bleibt in der Türkei zurück. Nur unregelmäßig halten sie Kontakt, meist per SMS oder über Internet-Chat.
Der Femizid in Harsewinkel - Alle Fakten im Überblick
2008 heiratet Müdje in der Türkei ihren Cousaint Önder B. Es ist eine arrangierte Hochzeit. Anschließend fliegt sie zurück nach Deutschland, lebt ihr westliches Leben. Ihr Mann ist damit nicht einverstanden. Er beleidigt und bedroht sie via Telefon.
Im August desselben Jahres erstattet Müdje Anzeige bei der Polizei. Ohne weitere Folgen.
Önder B. ruft die Polizei, gesteht die Tat. Bevor er abgeführt wird, küsst er die Leiche seiner Frau ein letztes Mal.
2009 wird Önder B. zu lebenslanger Haft verurteilt.
Zurück in Deutschland trifft Müdje wieder Freundinnen, geht aus, amüsiert sich. Sie will ein freies Leben führen. Liebe zu ihrem Ehemann: Fehlanzeige. Durch ihr Verhalten sieht ihr Ehemann die Familienehre in Gefahr. 4.000 Kilometer entfernt sitzt er in der Türkei, chronisch eifersüchtig. Diese Art Freiheit, die seine Partnerin führt, kann und will er nicht akzeptieren. Er sieht es als unehrenhaftes Verhalten, eine Ehrverletzung. Deshalb beleidigt und bedroht er sie am Telefon. Zu diesem Zeitpunkt ahnt niemand, welch fürchterliches Verbrechen er begehen wird. Im August 2008 geht Müdje zur Polizei und erstattet Anzeige. Sie beantragt auch die Scheidung in der Türkei. Für Önder B. ist das zu viel.
Gerade Trennungssituationen sind laut Experten für Frauen der gefährlichste Moment einer Beziehung. "Weil es der größte Ehre- oder Machtverlust des Mannes ist. Es geht immer um das Wiederherstellen eines Machtgefüges", sagt Tappmeier. Sie weiß, wie es um die Psyche solcher Männer bestellt ist. Wobei es "den einen Mann" nicht gibt. "Da sind viele kleine Wichte bei", sagt sie.
Familienehre: Bei der Ermordung seiner Frau sticht er ihr die Augen aus
Önder B. möchte die Trennung nicht hinnehmen. Er reist illegal nach Deutschland ein, will sie zur Rede stellen und wohnt sogar bei Familienmitgliedern von Müdje. Die ist dort längst ausgezogen. Am Silvesterabend feiern sie gemeinsam auf einer Party bei Freunden in Steinhagen. Kurz vor Mitternacht will Önder B. eine endgültige Aussprache. Beide fahren mit einem Fiat in Richtung Harsewinkel. Müdje lassen die Anschuldigungen kalt, sie reagiert nicht.
Als B. sie auffordert, ihm ihr Handy zu überlassen, um es zu kontrollieren, eskaliert die Situation. Sie nennt ihm dreimal die falsche PIN. Das Mobiltelefon ist gesperrt. Dann geht alles ganz schnell. B. fährt in den Feldweg an der Brockhäger Straße und stoppt den Wagen, um seine Frau zu bestrafen. Er zückt ein Messer und will sie ermorden. Dabei sticht er ihr mehr als 40 Mal in Kopf, Hals und Oberkörper. Auch beide Augen entfernt er. "Er hat sie auslöschen wollen. Er hat ihre Seele töten wollen. Da sollte nichts mehr von ihr überbleiben", sagt Tappmeier dazu.
Müdje lebt zu diesem Zeitpunkt noch. Blutüberströmt liegt sie auf dem Feldweg. Er überfährt sie mehrfach mit dem Auto. Um halb zwei am Neujahrsmorgen ruft er die Polizei, stellt sich. Bevor er von den Polizisten abgeführt wird, küsst er die Leiche seiner ermordeten Frau ein letztes Mal. Im August desselben Jahres befindet ihn das Schwurgericht am Bielefelder Landgericht für schuldig und verhängt eine lebenslange Freiheitsstrafe.