Gewalt in NRW-Kitas: "Eklatantes Aufsichtsversagen"

Münster/Bochum. Sprunghaft sind die Meldungen über Gewalt in NRW-Kitas angestiegen. Teilweise haben sich die Zahlen seit 2018 verdreifacht. Helfen sollen eigentlich individuelle Gewaltschutzkonzepte, die jede Kita seit Juni 2022 vorweisen muss. Allerdings, so zeigen Recherchen dieser Redaktion, gibt es in NRW weder eine Übersicht darüber, wie viele Einrichtungen die Vorgabe tatsächlich umsetzen, noch eine Kontrolle über die Qualität. Auf Anfrage teilen beide Landesjugendämter mit, dass es lediglich drei Fälle gebe, in denen die Gewaltschutzkonzepte in den Einrichtungen überprüft würden: bei der Beantragung oder Veränderung einer Betriebserlaubnis oder bei gemeldetem Verdacht. Das heißt, die Aufsichtsbehörden reagieren nur bei einem Anlass, von sich aus werden sie nicht aktiv. Daraus ergebe sich auch, so eine Sprecherin, "dass keine Übersicht des Umsetzungsstands über alle Kindertageseinrichtungen geführt wird". Stichproben in OWL offenbaren hier allerdings Ungereimtheiten: So teilen die Kreisjugendämter Lippe und Gütersloh mit, dass die Hauptverantwortung beim Landesjugendamt liege und ihnen eine Übersicht nicht vorliege. Die Stadt Herford hingegen hat genaue Zahlen parat - die aber auch das Landesjugendamt des LWL haben müsste: Von insgesamt 37 Kindertageseinrichtungen hätten 23 ein Schutzkonzept beim Landesjugendamt vorgelegt. "Weitere fünf Kitas werden die Erstellung des Schutzkonzeptes bis zum ersten August 2023 abgeschlossen haben. Die verbleibenden neun Einrichtungen werden erfahrungsgemäß demnächst vom Landesjugendamt angeschrieben", teilt eine Sprecherin der Stadt mit. Sowohl beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe als auch beim Landschaftsverband Nordrhein ist man sich durchaus bewusst, dass die Umsetzung der Schutzkonzepte in vielen Einrichtungen schwierig und beileibe kein Selbstläufer ist. "Träger von Tageseinrichtungen für Kinder melden im Beratungsprozess zurück, dass die schwierige Personalsituation in den Einrichtungen die Erarbeitung und die dauerhafte Implementierung eines Konzeptes zum Schutz vor Gewalt erschwert", so die Sprecherin. Kind aus Kita in Bochum beim Essen erstickt Trotzdem hat es derzeit keine Konsequenzen, wenn eine Einrichtung kein Konzept hat oder es in der Praxis nicht umsetzt. Auf Nachfrage teilen beide Landesjugendämter mit, in diesem Fall werde die erforderliche Maßnahme dann vereinbart. "Und das ist genau das Problem", sagt der Berliner Kinderschutzexperte Jörg Maywald, der Honorarprofessor für Sozial- und Bildungswissenschaften an der Fachhochschule Potsdam ist. "Die Kontrolle des Gewaltschutzes ist völlig unzureichend geregelt – und es gibt eben auch keine gesetzliche Bestimmung, Gewalt in Kitas statistisch zu erfassen." Was in den Landesjugendämtern erfasst wird, ist in den Augen von Maywald außerdem viel zu undifferenziert. "Das sind die Verdachtsfälle. Wir haben aber keine Übersicht darüber, welche dieser Fälle sich bestätigt haben. Wir wissen nicht, wie alt die Kinder sind. Und wir wissen vielerorts nicht, welche Form von Gewalt ausgeübt wurde." Wie schnell dieses laxe Vorgehen tragische Konsequenzen haben kann, weiß der Berliner Rechtsanwalt Holger Klaus. In seiner Kanzlei "Kitarechtler" berät er seit Jahren Erzieher, Eltern, Kita-Leitungen und Träger bei Rechtsproblemen rund um die Kinderbetreuung. "Wir hatten zuletzt einen Fall in einer Kita in Bochum, in der ein Kind während des Mittagsschlafs an Essen erstickt ist." Zu den Hintergründen darf Klaus nichts sagen. "Klar ist aber: Die Kita hatte kein Schutzkonzept. Und bei der Überprüfung hat sich herausgestellt, dass die zuständige Aufsichtsbehörde, das Landesjugendamt des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, zuletzt vor 25 Jahren die Zustände in der Kita überprüft hat." Kita-Anwalt sieht massivste Nachlässigkeit Klaus weiß: "Wir haben es bei der Überprüfung von Gewaltschutzkonzepten in ganz Deutschland mit massivsten Nachlässigkeiten zu tun. Kaum jemand weiß, wie viele Kitas überhaupt ein Konzept haben, geschweige denn, ob es, wie gesetzlich vorgegeben, wirklich speziell auf die Einrichtung zugeschnitten ist. Und ob es wirklich im Alltag gelebt wird, oder nur in der Schublade verstaubt, darüber gibt es erst recht keine Transparenz. Das ist ein eklatantes Aufsichtsversagen." Ein gutes Schutzkonzept sei echte Fleißarbeit. "Das darf eben nicht von der Stange sein, sondern die Träger müssen genau gucken: Wo gibt es individuell in diesem Gebäude uneinsehbare Ecken, wo gibt es Orte, an denen Kinder oder Erzieher nicht gehört werden, wie ist die Personalsituation in der Einrichtung? Jeder muss genau wissen, an wen er sich bei einem Verdachtsfall wenden kann – und was überhaupt die Kriterien sind, die einen Verdachtsfall ergeben. Das muss sitzen." Kinderschutzexperte Maywald hält deshalb das Wort "Konzept" für unzureichend. "Eigentlich ist das ein Prozess, eine Haltung gegenüber No-Gos, was Gewalt betrifft, was schon darunter fällt. Die muss allen Mitarbeitern in Fleisch und Blut übergegangen sein. Erst dann kann man von einem umgesetzten Gewaltschutz sprechen." Mutter aus Bielefeld nahm Sohn nach Vorfällen aus der Kita Was passieren kann, wenn Einrichtungen so nicht aufgestellt sind, hat Nadine Tellmann (Name geändert) erlebt. Ihr Sohn wollte auf einmal nicht mehr in die Kita gehen, verweigerte komplett. "Aber erst durch andere Eltern, denen ihr Kind das erzählt hatte, erfuhren wir von den Vorfällen in der Kita, er selbst hat nichts erzählt." Dort mussten alle Kinder Mittagsschlaf machen, auch die Vorschulkinder. "Unser Sohn brauchte das nicht mehr und wollte das auch nicht mehr. Deshalb haben sie ihn regelmäßig mit Gewalt mit den Händen im Bett festgehalten, seine Arme fixiert." Nadine Tellmann und ihr Mann wandten sich an den Vorstand und das Jugendamt. "Am Schluss war bestätigt, dass sich die Vorfälle so abgespielt hatten." Die Tellmanns wechselten daraufhin sofort die Einrichtung – nicht, ohne vorher eine Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben. "Die Kita wollte natürlich nicht, dass das bekannt wurde. Wir haben das dann gemacht – aber nur, weil in der Kita sowieso schon alle Bescheid wussten. Da war nichts mehr geheim zu halten. Und wir wollten da einfach nur noch weg." Dennoch scheint sich im vergangenen Jahr durch das Gesetz einiges verändert zu haben. "Wir werden derzeit überrannt mit Anfragen von Einrichtungen, die Beratung brauchen bei der Erstellung der Konzepte", sagt Gaby Flösser, Vorsitzende des Kinderschutzbundes NRW. Was auch zeigt: Die meisten Einrichtungen machen sich jetzt erst auf den Weg. "Die Abwehrhaltung ist groß, das erleben wir immer wieder." Aus Flössers Sicht ist es deshalb dringend notwendig, ein funktionierendes Netzwerk aufzubauen, das Umsetzung und Qualität des Gewaltschutzes in Kitas überprüft und nachhaltig kontrolliert. Dieser Ansicht ist auch Jörg Maywald. "Die Studie zur Beteiligung von Kindern im Kita-Alltag (BiKA) zeigt, wie häufig es in Einrichtungen unangemessenes Verhalten gegenüber Kindern gibt. Täglich mehrfach. Und das waren Situationen, in denen die Fachkräfte wussten, dass sie beobachtet wurden."

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