Paderborn. Katrice Lee ist verschwunden. Weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Ausgerechnet an ihrem zweiten Geburtstag. Es ist der wohl spektakulärste Vermisstenfall in OWL. Selten war eine Suchaktion so intensiv wie die nach dem kleinen britischen Mädchen. Auch mehr als 40 Jahre später gibt es keine Spur von Katrice Lee. Ihr Vater aber gibt nicht auf.
Der Fall Katrice Lee - Alle Fakten im Überblick
- Der britische Soldat Richard Lee ist mit seiner Familie seit 1979 in Paderborn stationiert. Am 28. November 1981 möchte er den Geburtstag seiner Tochter Katrice feiern.
- Im Paderborner NAAFI-Shop verschwindet die damals 2-Jährige in einem Moment der Unachtsamkeit spurlos, obwohl sie mit ihrer Mutter und einer Tante vor Ort ist.
- Die größte Vermisstensuche in der Geschichte Paderborns - Taucher durchsuchen die Lippe und den Lippesee, auch der Schloßgraben wird leergepumpt - ist erfolglos, die kleine Katrice bleibt verschwunden.
- Die Familie vermutet entgegen anderer Einschätzung der Polizei, die davon ausgeht, dass Katrice ertrunken ist, eine Entführung. Zwar gibt es immer wieder Hinweise, jedoch ist keiner davon zielführend. Wenige Jahre später wird der Fall geschlossen.
- Im Jahr 2012 - Katrice wäre mittlerweile 33 Jahre alt - nimmt die Polizei die Ermittlungen wieder auf. Auch ein Beitrag von "Aktenzeichen XY" beschäftigt sich mit dem Fall. Erneut bleibt der Erfolg jedoch aus. Trotzdem glaubt Richard Lee weiterhin daran, dass seine Tochter am Leben ist.
Katrice Lee hat Geburtstag
Es hätte eigentlich ein schöner Tag werden sollen. Es ist Samstag. Der 28. November 1981. Katrice Lee, die Tochter eines britischen Soldaten, hat Geburtstag. Das kleine Mädchen mit den hellen Locken und dem verschmitzten Lächeln ist aufgeregt. Katrice wird als aufgeweckt und lebensfroh beschrieben. Sie schielt leicht.
Wie ihre Schwester Natasha (7) ist Katrice ein Wunschkind. Beide waren unzertrennlich, berichtet Mutter Sharon später. Der Vater - Richard Lee, damals 32 - ist wie viele andere Soldaten in Paderborn stationiert. Die Familie lebt bereits seit zwei Jahren in Schloß Neuhaus. Hier hat sich ein kleiner, englischer Kosmos entwickelt. Bars, Pubs, Shops.
An jenem Tag, an den sich Richard Lee auch viele Jahre später im Gespräch genau erinnert, muss die Familie noch Besorgungen machen. Immerhin steht am Nachmittag eine Geburtstagsfete an. Verwandte sind angereist. Die Familie fährt ins NAAFI-Einkaufszentrum in Schloß Neuhaus. "Last-Minute-Shopping", wie Richard Lee berichtet. Für die Party.
Plötzlich ist Katrice Lee verschwunden
Wer im NAAFI-Shop einkauft, ist Teil der britischen Stationierten. So sollte es zumindest sein. Während Richard Lee im Auto wartet, kauft seine Frau Sharon (damals 28) mit dem Geburtstagskind und einer Tante ein. Natasha bleibt mit einem Verwandten zuhause. Sie will die Wohnung dekorieren.
An diesem Tag ist der NAAFI-Shop nur über den Hintereingang zu erreichen, heißt es später. Es ist etwa kurz vor 11 Uhr am Morgen. Sharon will gerade an der Kasse bezahlen, da fällt ihr auf, dass sie etwas vergessen hat. Die Chips.
Sie läuft noch einmal los. Katrice bleibt bei der Tante. Sie wolle lieber zu Mama, sagt das Mädchen, flitzt los, quer durch den Laden. Es ist das letzte Mal, dass der Lockenkopf gesehen wird. Sie kommt nicht bei der Mutter an.
Vergebliche Suche nach Katrice Lee
Nach wenigen Minuten durchsuchen bereits Polizisten und Zivilisten das Gelände rund um das heutige Bürgerhaus in Schloß Neuhaus. Weil Richard Lee Soldat ist, kommt auch die britische Militärpolizei zur Hilfe, schickt Hubschrauber. Zudem sucht die Polizei mit Spürhunden nach Katrice. Vergeblich.
"Eine derartige Suche hat es hier noch nicht gegeben", sagt der frühere Paderborner Oberstaatsanwalt Hans-Peter Dietzmann mehrere Jahre später. Er war mit der Untersuchung des Falls betraut.
Taucher durchsuchen damals die Lippe und den Lippesee. Sogar der Schlossgraben wird leergepumpt. Deutsche und britische Polizisten vernehmen mehrere Tausend Zeugen, überprüfen Hunderte Autokennzeichen. Katrice Lee bleibt verschwunden.
Es gibt erste Spuren zu Katrice Lee
Die Familie befürchtet eine Entführung. Der These der Ermittler, Katrice könnte in die Lippe gefallen und ertrunken sein, glauben sie nicht. Etwas, was gerade Richard Lee den Ermittlern noch lange vorwerfen wird. Katrice habe eine Wasserphobie, sagt er später. Sharon Lee meint: "Meine Tochter hat den NAAFI-Shop an diesem Vormittag verlassen. Aber nicht alleine."
Hinweise gibt es genug. Mal will jemand Katrice an einem Spielplatz gesehen haben. Mal in einem Kaufhaus im Rheinland. Oder auf dem Gepäckträger eines Fahrrads nahe einer Pferdeweide. Doch die Hinweise bleiben ohne Erfolg.
Ein Jahr später. Zum Jahrestag des Verschwindens berichten die Medien groß über den Fall. Bilder des Mädchens sind in den Zeitungen zu sehen. Ein Postbote in Osnabrück macht den Lees Hoffnung. Er kenne das Mädchen. Er sei sich sicher. Er habe es vor gut einem Jahr getroffen. Alleine auf der Straße. Er habe das Kind zur Polizei gebracht.
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Die Akten im Fall Katrice Lee werden geschlossen
Doch es stellt sich heraus: Das Mädchen war nicht Katrice. Wenige Jahre später werden die Akten geschlossen. Katrice sei wohl ertrunken, ist für die Ermittler die Schlussfolgerung. Familie Lee glaubt das nicht.
Das eigene Kind ist verschollen - es ist das wohl Furchtbarste, was einer Familie passieren kann. Etwas, woran vieles kaputtgeht. So auch die Ehe der Lees. Sie trennen sich, Anfang der 90er-Jahre ziehen beide getrennt in die Heimat.
Richard Lee lebt in Hartlepool im Norden Englands, tritt noch heute regelmäßig in Medien auf. Um den Fall "am Leben zu halten", wie er sagt. Vielleicht kriegt Katrice ja eines Tages doch etwas mit. Seine Ex-Frau zieht es derweil in den Süden der Insel nach Hampshire.
Polizei nimmt Ermittlungen im Fall Katrice Lee wieder auf
Fast zwei Jahrzehnte später kommt Hoffnung auf. Es ist das Jahr 2012. Katrice Lee wäre mittlerweile 33. Die britische Militärpolizei nimmt die Ermittlungen wieder auf. Sie arbeitet die Details und Hinweise auf. Es werden Fotos erstellt, die zeigen, wie Katrice Lee heute aussehen könnte. Wohlgemerkt: aussehen könnte.
Es wird wieder öffentlich gefahndet. Ein Beitrag bei "Aktenzeichen XY" beschäftigt sich 2013 mit dem Fall. Ein paar Jahre später wird ein Phantombild eines mutmaßlichen Entführers veröffentlicht. 36 Jahre nach dem Verschwinden.
Die Beamten sagen, es sei entstanden, als man die etwa 11.000 Seiten Akten erneut durchforstet hat. Das Bild lag laut Medienberichten aber mehr als drei Jahrzehnte in den Schubladen der britischen Militärpolizei.
Ein Mann wird verhaftet - und kommt wieder frei
2018. Die Militärpolizei kündigt eine forensische Untersuchung in Paderborn an. Sie will am Ufer der Alme unweit der Benteler-Arena graben. Hier wurde am Tag nach Lees Verschwinden ein verdächtiges grünes Auto gesehen. Doch auch nach mehreren Wochen Grabung gibt es keine Spur. Katrice Lee bleibt verschwunden.
2019 rückt der Fall erneut in den Fokus. Im englischen Swindon wird ein Mann verhaftet, laut Berichten ein ehemaliger Angehöriger des Militärs. Die Militärpolizei gräbt in seinem Garten, findet aber nichts. Der Mann (74) kommt wenig später frei.
Es war laut Berichten erst die zweite Festnahme in fast vier Jahrzehnten Ermittlungen. Als er noch im Amt ist, verspricht der ehemalige Premierminister Boris Johnson ein Treffen mit Richard Lee. Bisher hat es nicht stattgefunden.
Richard Lee hofft weiterhin
Richard Lee, der selbst immer wieder mal nach Paderborn kommt, bekräftigt immer wieder, er glaube, dass seine Tochter noch leben könne. "Es gibt keine Beweise, dass es nicht so ist", sagt er. Er hat Hoffnung. "Immer wieder kommt es auf der Welt vor, dass verschwundene Kinder nach vielen Jahren wieder zu ihren Familien kommen", erklärt Richard Lee.
Trotzdem gesteht er auch: "Die Tränen vergehen nicht." Er ist davon überzeugt, dass sie womöglich entführt wurde. Mittlerweile könnte sie unter anderer Identität leben. Als Tochter einer anderen Familie. Ohne, dass sie weiß, wer sie ist: Katrice Lee - das Mädchen, das am 28. November 1981 in Paderborn verschwand. Und das bis heute vermisst wird.
Doch was würde Richard Lee seiner Tochter sagen, wenn er sie wirklich eines Tages treffen und in die Arme schließen könnte? Er zögert kurz. "Willkommen zuhause", sagt er. "Ich bin dein echter Vater. Du hast mit einer Lüge gelebt."