Bielefeld. Sie liebte einen Deutschen - und musste deswegen sterben. Arzu Ö. war gerade 18 Jahre alt, als sie von der eigenen Familie getötet wurde. Ein sogenannter Ehrenmord. In einer Welt, in der Familienwerte wichtiger sind als Recht und Justiz.
Der schockierende Fall ist nun Thema in der neuen Episode von "OstwestFälle - dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen".
1993 erblickt Arzu Ö. in Detmold das Licht der Welt. Sie ist eines von zehn Kindern. Kurz vor ihrer Geburt sind ihre Eltern, jesidische Kurden, aus Südostanatolien nach OWL gekommen. Wie häufig in solchen Familien üblich, herrschen spezielle Regeln. Zum Beispiel, was das Heiraten angeht.
Mord an Arzu Ö. - Alle Fakten im Überblick
- Arzu Ö. (18 Jahre) verliebt sich in den Russlanddeutschen Alexander K. (23). Doch das passt ihrer streng gläubigen jesidischen Familie nicht.
- Die junge Kurdin wird von der Familie eingesperrt. Dann ändert sie ihren Namen und ihr Aussehen, flieht in ein Frauenhaus.
- Eines Tages suchen fünf ihrer Geschwister sie in der Wohnung ihres Freundes auf. Sie verletzen Alexander K. brutal und nehmen Arzu mit.
- Eineinhalb Jahre später wird ihre Leiche in einem Waldgebiet in Schleswig-Holstein gefunden. Arzu Ö. starb durch zwei Kopfschüsse.
- Die fünf Geschwister und ihr Vater werden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Arzu besucht bis 2010 eine Gesamtschule in Detmold. An Wochenenden arbeitet sie in einer Bäckerei, verdient sich ein paar Euro dazu. Dort lernt sie den Mann kennen, der nicht in das strenge Bild der jesidischen Familie passt. Alexander K. ist 23, Russlanddeutscher, Bäckereigeselle. Er und Arzu verlieben sich. Doch das passt der Familie nicht.
Der einzige Ausweg: Weg hier!
Die Familie lehnt die Verbindung so rigoros ab, dass Arzu Opfer von Gewalt wird. Sie wird eingesperrt und verprügelt, heißt es später im Gerichtsprozess. Arzu sieht nur einen Ausweg: weg hier. Sie ändert ihre Frisur, ihr Aussehen, sogar ihren Namen. Sie trägt nun kurze blonde Haare statt lange schwarze. Sie sucht Zuflucht in einem Frauenhaus.
1. November 2011. Arzu ist zu Besuch bei ihrem Freund Alexander. Mitten in der Nacht - gegen 1.30 Uhr - stehen plötzlich fünf Personen vor der Tür, dringen in die Wohnung ein. Es sind Arzus Geschwister. Wie hatten sie ihre Schwester gefunden?
Einer ihrer Brüder hat eine Schusswaffe dabei. Alle fünf gehen brutal vor, schlagen Arzus Freund nieder. Er bekommt eine Flasche über den Kopf gezogen, sie brechen ihm einen Finger. Arzu klammert sich noch an ihrem Freund fest. Ohne Chance. Die Geschwister schaffen sie aus der Wohnung, setzen sie in ein Auto. Arzu wehrt sich, doch sie kann sich nicht befreien.
Die Geschwister schweigen
Ihr schwer verletzter Freund ruft die Polizei und informiert über die Entführung. Eine große Suche beginnt am Tag darauf - inklusive Polizeihubschrauber. Unter anderem wird ein Waldstück an der Stadtgrenze von Detmold akribisch durchforstet, auch das Grundstück des Vaters. Später die Wohnungen der Brüder. Ohne Erfolg. Arzu bleibt verschwunden.
Anders als ihre Geschwister, die die Polizei schnell findet. Sie nimmt vier Brüder und eine Schwester fest. Doch sie alle schweigen zu der Gewalttat oder machen nur wenig hilfreiche Aussagen.
Zeugen hören Schüsse in Waldstück
Für die Ermittler ist schnell klar, dass bei dem Überfall das Verhältnis zwischen Arzu und Alexander K. im Fokus stand. "Diese Beziehung wird von der kurdischen Familie offensichtlich nicht toleriert", sagt eine Polizeisprecherin damals. Doch wo ist Arzu Ö.? Für die Ermittler sind viele Szenarien denkbar. Wurde sie außer Landes geschafft? Lebt sie überhaupt noch?
Dass die Sorge nicht unbegründet ist, zeigen die Aussagen mehrerer Zeugen. Sie wollen in der Tatnacht Schüsse gehört haben - in einem Waldstück im Detmolder Osten. Später wird klar, dass diese nicht von Jägern abgegeben wurden. Doch wirkliche Antworten können die Ermittler nicht geben. Arzu bleibt verschwunden.
"Kaum Hoffnung für Arzu Özmen"
Exakt einen Monat später titelt die "nw.de" : "Kaum Hoffnung für Arzu Özmen". Die Ermittler gehen nicht davon aus, dass die junge Frau noch lebt. Der Fall wird bei "Aktenzeichen XY" im "ZDF" ausgestrahlt. Auch in der Türkei wird nach der Vermissten gesucht.
13. Januar 2013. Großensee in Schleswig-Holstein, 276 Kilometer von Detmold entfernt. Zwei Mitarbeiter des örtlichen Golfplatzes drehen ihre Runde. In einem Gebüsch machen sie eine grausige Entdeckung. Eine Frauenleiche. Ein DNA-Abgleich ergibt: Es ist Arzu. Gestorben durch zwei Schüsse in den Kopf.
Doch was genau ist nach der Entführung passiert? Wie ist die Leiche auf den Golfplatz gekommen? Fragen, auf die nur die Geschwister eine Antwort haben. Doch sie schweigen.
Einer aber packt schließlich aus: ihr 24-jähriger Bruder. Er berichtet den Ermittlern, was passiert ist. Dass er geholfen habe, Arzu zu entführen. Dass er nicht wisse, was zwei seiner Brüder mit ihr gemacht haben, als sie in den VW Golf geschafft wurde. Für die Ermittler Grund genug, den Mann aus der Haft zu entlassen. Dann setzt der Dominoeffekt ein - ein zweiter Bruder bricht sein Schweigen, bestätigt die Aussagen des ersten.
Die zentrale Rolle von Arzus Schwester
Arzu Ö. wird Anfang Februar in der Türkei beigesetzt. Die Menschenrechtsorganisation Peri berichtet von einer nüchternen Zeremonie. 30 Gäste sind gekommen. Laut türkischen Medien sind Arzus Eltern nicht dabei.
30. April, 2012. Prozessauftakt am Detmolder Landgericht. Unter Tränen gesteht einer der Brüder (22) Arzu zwei Mal in den Kopf geschossen zu haben. Seine Schwester habe ihn beleidigt und bespuckt. Er habe die Kontrolle verloren. Wieso er die Waffe dabei hatte? Er wisse es nicht mehr. Man habe ihr nur den "Kopf waschen" wollen, geben die Angeklagten an. Man habe sie nach Hamburg bringen wollen, doch der Onkel vor Ort sei nicht anzutreffen gewesen.
Irgendwann landete man auf einem Waldweg. Hier habe Arzu durch zwei Kopfschüsse sterben müssen. Geplant sei der Mord nie gewesen. Makaber: Während des Prozesses kommt heraus, dass Arzu offenbar eine Vorahnung hatte. In einer Nachricht an eine Freundin schrieb sie: "Wenn die mich finden, bin ich eine tote Frau. Kennst du Eko Fresh 'Köln-Kalk-Ehrenmord'? Wenn ich nicht gegangen wäre, wäre ich auch so gelandet."
Bruder wird wegen Mordes verurteilt
17. Mai 2012. Die Geschwister werden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der Richter am Landgericht spricht von einem "Mord nach Ansage", einer "Hinrichtung", einem "Ehrenmord". Dass Arzu nur der "Kopf gewaschen" werden sollte, ist für den Richter kaum glaubhaft. Der geständige Bruder muss wegen Mordes lebenslang ins Gefängnis. Die Schwester und ein weiterer Bruder müssen wegen Beihilfe für zehn Jahre hinter Gitter, die zwei anderen Brüder wegen Geiselnahme für fünf Jahre. Gerade Arzus Schwester soll eine Schlüsselrolle eingenommen haben. Denn sie hatte als Angestellte der Stadt Detmold Zugang zum Anwohnermeldeamt, konnte so Arzu ausfindig machen.
Es bleiben trotzdem offene Fragen
Gut ein Jahr später wird auch Arzus Vater zu einer Haftstrafe verurteilt - wegen Beihilfe zum Mord durch Unterlassen sowie gefährlicher Körperverletzung. Er muss sechseinhalb Jahren in Haft. Kurz darauf verurteilt das Landgericht Detmold ihre Mutter per Strafbefehl unter anderem zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung.
Es bleiben offene Fragen nach den Tathintergründen. Oder danach, was genau in der Nacht passiert ist. Wo Arzu tatsächlich gestorben ist. Wie die Leiche transportiert wurde. Was mit der Mordwaffe passiert ist. Auf die Aussagen der Geschwister scheint sich das Gericht nicht abschließend stützen zu wollen. Vielleicht, weil die Richter wissen, dass in der Familie andere Regeln geherrscht haben als Gesetz und Justiz.
INFORMATION
Kritischer Begriff "Ehrenmord"
Der Begriff "Ehrenmord" wird kritisch gesehen, da er das Tatmotiv verharmlost oder gar legitimiert. Die allermeisten Gewalttaten gegenüber Frauen haben nichts mit Ehrenmorden zu tun. Es sind Femizide. Als Femizid bezeichnet man die Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts.