Von Kühen und Weltverschwörung: Die Geschichte der Impfgegnerschaft

Münster. Die Impfkampagne gegen Corona erhitzt die Gemüter. Zu wenig, zu langsam, zu spät, schallt es den Verantwortlichen entgegen. Derweil beschäftigt viele Menschen, ob sie sich überhaupt impfen lassen. Im aktuellen ZDF-Politbarometer sagte eine Mehrheit von 67 Prozent "Ja" zum Piks in den Arm, 16 Prozent mehr als noch im November. Das heißt aber auch: Rund ein Drittel ist sich noch nicht sicher oder strikt dagegen. Die Argumente reichen von Nebenwirkungen bis zu Verschwörungstheorien, wonach dem Impfling Mikrochips eingepflanzt würden oder die Vakzine unfruchtbar machen. Historiker Malte Thießen hat angesichts dieser Debatte ein "Deja Vu". Er leitet das Institut für westfälische Regionalgeschichte beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in Münster und beschäftigt sich mit der Geschichte des Impfens. Viele Argumente erkennt er wieder. Schließlich sei das Phänomen der Impfgegnerschaft "so alt wie die Impfung selbst", so Thießen. Angst vor der Kuh Die erste Impfung gab es gegen Pocken. Allein im 20. Jahrhundert tötete die Krankheit weltweit rund 300 Millionen Menschen. 1874 wurde die Impfung im Deutschen Kaiserreich Pflicht. Doch manch Impfgegner sträubte sich. Laut Thießen fürchteten einige, die Impfung könne sie in Kühe verwandeln. Zum Hintergrund: Der englische Landarzt Edward Jenner hatte 1796 einen Jungen mit dem Sekret aus den Pusteln von Kuhpocken infiziert, der sich danach nicht mehr mit Menschenpocken anstecken konnte. "Heute findet sich das in der Angst vor genetischen Veränderungen durch die Corona-Impfung wieder", sagt Thießen. Schließlich liefern sogenannte mRNA-Impfstoffe - wie der von Biontech/ Pfizer - den menschlichen Zellen Anleitungen, um Bestandteile von Coronaviren herzustellen. Daran wird das Immunsystem geschult und auf den Kampf gegen tatsächliche Viren vorbereitet. In Kontakt mit der menschlichen Erbsubstanz kommt der Impfstoff dabei aber entgegen der Behauptungen nie. Furcht vor der Weltherrschaft Auch die Angst vor "perfiden Pharmaunternehmen" bewegte die Menschen schon vor Jahrzehnten, sagt Thießen. Die Befürchtung: "Die Unternehmen wollen vor allem Kasse machen, obwohl die Impfung nichts bringt." Daraus speiste sich eine weitere Angst: "Nämlich, dass Impfen ein Bestandteil der jüdischen Weltverschwörung sei und dass Juden mit dem Impfstoff den Rest der Menschheit zu unterjochen planten." Diese Verschwörungstheorie finde sich in ganz unterschiedlichen Ausprägungen im 19. und 20. Jahrhundert, sagt der Historiker. "Im Kern geht es um die Vorstellung, dass der Impfstoff giftig sei, sodass Christen beziehungsweise Deutsche geschwächt würden, degenerierten oder gar sterben, und die Juden so ihre Macht bis zur Weltherrschaft ausweiten könnten." Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sagt Thießen, spiele auch das Klischee eine Rolle, dass "Juden" als Herrscher des Finanzmarktes Pharmaunternehmen steuerten, um dieses Ziel voranzubringen. Im "Dritten Reich" erlebte die Verschwörungstheorie laut Thießen ihren bisherigen Höhepunkt. Auch heute werden Impfgegner von der Angst vor Weltherrschaftsplänen umgetrieben. Thießen verweist auf eine verbreitete Verschwörungstheorie, wonach Microsoft-Gründer und Impfstoff-Förderer Bill Gates den Impflingen Mikrochips einpflanze, um sie gefügig zu machen. Unnatürliche Eingriffe Manche Impfgegner argumentieren auch religiös. "Sie sehen das Impfen als Eingriff in Gottes Wirken", so Thießen. "Denn Gott weiß, wer krank werden soll und wer nicht", umreißt der Historiker ihren Standpunkt. Seit dem 19. Jahrhundert sei diese Argumentation jedoch auf dem Rückzug, werde aber auch heute noch zum Beispiel von sehr bibeltreuen Menschen vertreten. Vergleichbar argumentiert die "Lebensreformbewegung", die Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommen sei. "Ihre Anhänger setzten auf die Selbstheilungskräfte des Körpers", so Thießen. Diese sollten nur etwa durch Sport, Sonne und Abhärtung gefördert werden. "Aus dieser Sicht sind Impfungen Teufelszeug, weil sie in den Körper eingreifen." Mahnung zur Eile Thießen warnt bei der Impfdebatte davor, in ein simples "Freund-Feind-Schema" zu verfallen. Vor allem sei die Angst vor Nebenwirkungen ernstzunehmen. Laut dem Historiker spielen diese eine größere Rolle, seitdem Infektionskrankheiten hierzulande aus dem Alltag der Menschen zurückgedrängt wurden. So sind keine Menschen mit Pockennarben, "Tuberkulosebuckeln" oder sonstigen, sichtbaren Krankheitsschäden zu sehen.Umso genauer werde bei Impfungen auf mögliche Nebenwirkungen geschaut. Im Falle der Corona-Pandemie sei die Datenbasis gut. "Wir impfen in Größenordnungen, die verlässliche Angaben über Nebenwirkungen erlauben", so Thießen. Deswegen geht er davon aus, dass die Impfbereitschaft noch steigt oder sich zumindest auf derzeitigem Niveau stabilisiert. Dafür spricht aus Sicht des Forschers auch, dass die "gefühlte Bedrohung" im Vergleich zum November und erst recht zum Sommer zugenommen habe. Denn der Lockdown zeigt kaum Wirkung, während jederzeit eine Virusvariante auftauchen könnte, vor der bisherige Vakzine keinen Schutz bieten. Deswegen mahnt der Seuchenexperte zur Eile: "Je länger Corona auf der Welt ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass Impfstoffe nicht mehr gegen das Virus helfen."

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