Missbrauchsbeauftragter: „Haarsträubende Fehler klar benennen“

Herr Rörig, nach den Urteilen in den Aufsehen erregenden Missbrauchsfällen von Lügde bleibt ein bitterer Beigeschmack. Selbst Fachleute zweifeln, ob sich ein nachhaltiger Lerneffekt bei Jugendämtern, Polizei, kommunalen Beobachtern angesichts der unfassbaren Häufung von Pannen einstellen wird. Was darf nun nicht mehr aus dem Blick geraten? JOHANNES-WILHELM RÖRIG: Die Ursachen für die vielen haarsträubenden Fehlentscheidungen im Missbrauchsfall Lügde müssen klipp und klar benannt und die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Hierbei geht es um strukturelle und personelle Defizite, die untersucht werden müssen. Die zuständigen Landesregierungen müssen sich daran messen lassen, was sie nun konkret für den Schutz von Mädchen und Jungen vor sexueller Gewalt und behördlichem Versagen unternehmen werden. Der NRW-Landtag von NRW hat absolut richtig gehandelt, als er einen Untersuchungsausschuss zum Missbrauchsfall Lügde eingerichtet hat. Kinderschutz darf nicht länger an falscher politischer Prioritätensetzung, Ignoranz und fehlenden Ressourcen scheitern. Deshalb werde ich auch weiterhin den Dialog mit den Ländern suchen. Die Jugendämter haben im Fall Lügde schwere Fehler begangen. Reicht es aus, für mehr Personal zu sorgen? Oder muss deutlich mehr Qualität her? Rörig: Sexueller Missbrauch ist meistens noch sehr viel schwerer zu erkennen und zu diagnostizieren als Kindesmisshandlung oder -vernachlässigung. Um sexuellen Missbrauch erkennen zu können, brauchen Beschäftigte von Jugendämtern ein gutes Fachwissen, zum Beispiel zu Strategien von Tätern und Täterinnen, also der bewussten Manipulation und Täuschung des Umfeldes der Kinder. Nur dann können Indizien, Merkwürdigkeiten und Ahnungen richtig eingeordnet und es kann professionell gehandelt werden. In jedem Fall ist eine enge Kooperation der Jugendämter mit den spezialisierten Fachberatungsstellen, aber auch mit Schulen und zum Beispiel der Polizei, wichtig. Und natürlich brauchen Beschäftigte der Jugendämter auch genug Zeit für ihre Fälle. Deshalb muss der Personalbedarf in allen Jugendämtern in Deutschland dringend überprüft und über Fallobergrenzen diskutiert werden. Was muss geschehen, um alle Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, bei einem Verdacht handlungssicher zu machen? Rörig: Ich kann es ganz einfach auf den Punkt bringen: Im Alltag gelebte Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt sind die Lösung. Dazu gehören zum Beispiel ein Verhaltenskodex, Fortbildungen, ein Handlungsplan, Beschwerdestrukturen, Präventionsworkshops für Kinder oder auch Informationsveranstaltungen für Eltern. Kitas, Schulen, Sportvereine und auch alle kirchlichen Einrichtungen sollten sich aktiv und losgelöst vom konkreten Fall mit dem Thema auseinandersetzen – auch wenn es verdammt schwerfällt. Jede Einrichtung muss die zentralen Fragen beantworten können: Würde ein Kind, das Missbrauch in der eigenen Familie oder durch Nutzung digitaler Medien erleidet, bei uns eine vertrauenswürdige und kompetente Ansprechperson und Hilfe finden? Herrscht bei uns ein kinderschutzfreundliches Klima? Dulden wir sexistische Witze, schreiten wir pädagogisch ein und zeigen wir eine klare Haltung gegen jede sexuelle Grenzverletzung? Das erste Urteil im Fall Lügde im Frühsommer betraf einen Täter, der das von den Haupttätern erstellte kinderpornografische Material konsumierte bzw. während Missbrauchstaten per Live-Chat zugeschaltet war. War dieses Urteil im digitalen Zeitalter viel zu milde und sorgt es dafür, derlei Taten zu bagatellisieren? Rörig: Die öffentliche Empörung hat deutlich gezeigt: Die Gesellschaft ist hoch sensibilisiert und will nicht hinnehmen, dass jemand, der das Internet nutzt, um per Webcam realen sexuellen Missbrauch zu verfolgen oder gar zu steuern, als Täter mit nur geringer krimineller Energie beurteilt wird. Die Wertung des Gerichtes, dass Heiko V. nie selbst ein Kind missbraucht habe, stimmt in Zeiten, in denen es so einfach geworden ist, Kinder über das Internet sexuell zu missbrauchen, sehr nachdenklich. Außerdem wurden bei dem Täter Zehntausende kinderpornografische Fotos und Videos gefunden. Noch viel zu oft werden die Herstellung, der Besitz und die Weiterleitung von Missbrauchsabbildungen als minder schwere Kriminalität angesehen, obwohl hinter jedem Foto, hinter jedem Video der reale Missbrauch eines Kindes steht, oft mit unvorstellbarer Brutalität. Stichwort Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch: Was sollte sich in der Strafgesetzgebung ändern, damit sich Täter niemals sicher fühlen können? Rörig: Seit der durch den Fall &bdquo;Edathy" ausgelösten Gesetzgebung des Bundestages im Jahr 2014 können Betroffene bei schwerem sexuellem Missbrauch bis zur Vollendung ihres 50. Lebensjahres eine Strafanzeige stellen. Da ein sehr später Strafprozess immer das Risiko birgt, dass ein Angeklagter mangels Beweisen freigesprochen wird, bin ich kein Freund der Forderung, strafrechtliche Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch vollständig abzuschaffen, auch wenn viele Betroffene sich eine solche Aufhebung wünschen. Ein Strafprozess garantiert keine Verurteilung, und der Grundsatz &bdquo;im Zweifel für den Angeklagten" ist eine tragende Säule unseres Rechtsstaats. Sehr wichtig finde ich, dass es Betroffenen leichter gemacht wird, über das erlittene Leid so früh wie möglich zu sprechen. Deshalb bietet die bei meinem Amt eingerichtete unabhängige Aufarbeitungskommission Betroffenen vertrauliche Anhörungen an. Täter suchen ihre Opfer oft in labilen, überforderten Konstellationen. Welche Form der frühen Hilfen wäre denkbar für solche Familien? Rörig: Einerseits ist es eine gesicherte Erkenntnis, dass sexueller Missbrauch in allen sozialen Milieus vorkommt. Andererseits zeigen uns die Analysen von Fällen immer wieder – zuletzt sehr erschreckend in Lügde – dass Täter dann besonders leichtes Spiel haben, wenn sie sich Kindern aus Familien in belasteten Lebenslagen nähern. Für das Umfeld oft unbemerkt oder sogar als entlastend erlebt, gehen Täter scheinbar sensibel und aufopfernd auf die Bedürfnisse von Kindern ein. Sie ermöglichen das geliebte Hobby, unterstützen bei den Hausaufgaben oder sind einfach mal für einen Austausch am Nachmittag da. Das ist eine perfide Täterstrategie, weil für Familien solche Unterstützungsangebote ja eine echte Hilfe sein können. Deshalb sind gute öffentliche oder öffentlich geförderte Angebote für Eltern, Kinder und Jugendliche sehr wichtig: professionelle Familienhilfen, die niedrigschwellige und konkrete Unterstützung im Alltag bieten sowie Freizeitangebote, die allen Kindern und Jugendlichen Zugang zu Ansprechpersonen eröffnen. Und natürlich ist eine breite Sensibilisierung der Bevölkerung zum Ausmaß von Missbrauch ganz wichtig. Jede Mutter und jeder Vater muss wissen, dass Missbrauch kein Phänomen des abendlichen Fernsehkrimis ist. Man weiß, dass viele Opfer schweren Missbrauchs oft ein Leben lang traumatisiert, in ihrer sozialen Teilhabe eingeschränkt bleiben. Was muss an konkreten Hilfen, auch Entschädigungsleistungen, die oft aus Scham nicht beantragt werden, für Betroffene getan werden? Rörig: Ein absolut wichtiger Schritt ist die dringend notwendige Reform des Opferentschädigungsrechts (OEG) die aktuell von Bundestag und Bundesrat verhandelt wird. Die soziale Entschädigung ist bisher viel zu wenig auf die Belange der Betroffenen ausgerichtet. Missbrauchsopfer brauchen sehr oft Therapien und Hilfen, die von der gesetzlichen Krankenversicherung bisher nicht übernommen werden. Ich setze mich deshalb sehr dafür ein, dass die Belange von Betroffenen bei der jetzigen Reform der sozialen Entschädigung von Bund und Ländern stärker beachtet werden. Nachtrag: In einer vorigen Version hatten wir geschrieben: "NRW-Missbrauchsbeauftragter: "Haarsträubende Fehler klar benennen". Das war sachlich falsch, denn Wilhelm Rörig ist der sogenannte Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Deshalb haben wir unsere Überschrift geändert.

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