100 Jahre AWO

Eine Chance für entwurzelte Kinder

Wer in einer Plegefamilie landet, hat meist schon ein hartes Schicksal hinter sich. Die AWO hilft beim Neuanfang

Da ist was los: Stephanie Loke (AWO, l.) zu Besuch bei Familie Weyerts, Ann-Christin (v.l.), Mutter Karin, Lea, Vater Michael, Noah sowie die Hunde Watson und Aragon. Foto: Monika Dütmeyer | © Monika Dütmeyer

08.07.2019 | 08.07.2019, 19:00

Vlotho. Heute ist Planschbeckenwetter bei Familie Weyerts in Vlotho-Bonneberg. Die Pflegekinder Ann-Christin (14), Noah (11) und Lea (8) sausen in Badesachen durch den Garten, raufen mit den Hunden Watson und Aragon und kühlen sich im Pool ab. Pflegemutter Karin Weyerts serviert Eisgetränke. Auf ihrer Wade trägt sie ein Tattoo – eine Pflanze mit vielen Blättern. „Jedes Blatt steht für eins meiner Kinder", sagt die 53-Jährige.

Neben Ann-Christin, Noah und Lea hat sie auch ihren leiblichen, erwachsenen Töchtern Julia und Lisa ein Blatt gewidmet, genauso wie den ebenfalls erwachsenen Pflegesöhnen Mehmet und Murat.

Zum Familiennetzwerk gehört auch Stephanie Loke vom Team „Westfälische Pflegefamilien" der AWO. Die Sozialpädagogin besucht die Familie regelmäßig und hat auch die Vermittlung der Kinder betreut. „Oft interessieren sich Menschen für das Thema, die schon erwachsene Kinder haben und die Familienphase verlängern möchten. Oder Menschen, die ungewollt kinderlos geblieben sind." Die 47-Jährige hilft bei allen Herausforderungen – zum Beispiel ist sie dabei, wenn Besuche der leiblichen Eltern anstehen.

Die meisten bleiben bis zur Volljährigkeit

Die Treffen finden zwischen einmal monatlich und einmal jährlich statt – immer an neutralen Orten. „Die Pflegeeltern sind als erste Ansprechpartner für die Kinder immer dabei." Die Angst, die Pflegekinder wieder abgeben zu müssen, sei erfahrungsgemäß in den meisten Fällen unbegründet. „Die meisten bleiben bis zum Erwachsenenalter und darüber hinaus in ihren Familien." Rund 1.200 westfälische Pflegekinder gibt es, die AWO betreut als einer von 46 Trägern knapp 50 von ihnen. Alle westfälischen Pflegekinder eint eine besondere Geschichte, für die es sogar einen eigenen Paragrafen gibt.

Der Paragraf 33 Satz 2 im Sozialgesetzbuch beschreibt besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder, die wenig Stabilität in Beziehungen zu Erwachsenen erlebt haben, manchmal sogar seelische oder körperliche Gewalt. „Deshalb müssen unsere Pflegeeltern besonders geeignet sein, zum Beispiel durch die Erziehung eigener Kinder, eine medizinische oder pädagogische Ausbildung."

Angesprochen auf den Missbrauchsfall Lügde erklärt Loke: „Natürlich beschäftigt uns dieses Thema." Eine alleinerziehende Person, die auf dem Campingplatz wohnt, wäre aber wohl nicht als geeignet eingestuft worden. „Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nie, aber wir tun alles für das Wohl der Kinder."

Geduld und Humor sind nötig

Neben den Formalitäten wie Finanzen oder Führungszeugnis sind häufig die menschlichen Qualitäten wie Geduld, Konfliktfähigkeit oder Humor entscheidend für die Eignung. Und dann gibt es da noch eine Sache, die Pflegevater Michael Weyerts (53) betont, während Lea beherzt an seinem Ohrläppchen zieht, damit er neue Eisgetränke aus der Küche holt.

„Man muss die Kinder ehrlich annehmen und sie mit ihrer Geschichte ins Herz schließen", sagt er. Für die Herkunftseltern gelte dasselbe. Die elterlichen Rollen sind bei den Weyerts übrigens klar verteilt. Mama Karin übernimmt die Morgenschicht und den strengeren Part der Erziehung. Papa Michael bringt die Kinder ins Bett und tröstet sie, wenn es mal Stress gab. Und den gab es auch bei Weyerts schon.

Entwurzelte Kinder

„Pflegekinder sind entwurzelte Kinder, das bleibt für sie ein Lebensthema", sagt Michael Weyerts, der als Molkereimeister in Herford arbeitet. Bemerkbar mache sich das manchmal in unangemessenem Verhalten. „Eines unserer Kinder hat beispielsweise behauptet, ich hätte ihm fünf Jahre keine neuen Schuhe gekauft", erinnert sich Karin Weyerts. Doch mithilfe von Stephanie Loke konnte schnell aufgeklärt werden, dass Flunkereien wie diese zum Krankheitsbild des Kindes gehören.

Dann heißt es, geduldig sein, verzeihen können und vielleicht sogar später gemeinsam drüber lachen. „Keines dieser Kinder hat ein böses Herz, sie haben einfach ihr Päckchen zu tragen", sagt Vater Weyerts.

Dass sie Pflegekinder sind, wird den Kindern sehr deutlich vor Augen geführt, wenn sie ins Berufsleben einsteigen – und volljährig werden. „70 Prozent ihrer Ausbildungsvergütung müssen Pflegekinder an den Staat abgeben", erzählt Stefanie Loke. In manchen Städten dürften die Azubis ihre Vergütung behalten, dafür werde das Pflegegeld gekürzt. Wenn Pflegekinder volljährig werden, müssen sie die weitere Unterstützung selbst beim Jugendamt beantragen. „Für uns als Eltern ist das auch eine schwierige Situation, wenn unsicher ist, ob die Hilfe weiter gewährt wird. Da wünschen wir uns eine bessere Lösung", sagt Karin Weyerts.

Doch bei allen Herausforderungen bekommen die Pflegeeltern auch eine Menge zurück. „Dass wir anderen ein Zuhause geben können, macht mich glücklich und stolz", sagt die Pflegemama. „Es ist komplett unser Ding, hält in Bewegung und einfach jung", sagt der Pflegepapa. „Sudoku kann noch warten."

Die AWO sucht noch weitere Pflegefamilien. Informationen unter Tel. (05 21) 9 216 320 oder im Internet unter www.pflegefamilien-owl.de

INFORMATION


Themenwoche 100 Jahre AWO

Die Arbeiterwohlfahrt feiert im Jahr 2019 ihr 100-jähriges Bestehen.

In Ostwestfalen-Lippe arbeiten tausende Menschen haupt- und ehrenamtlich für die AWO.

Wir widmen diesen Menschen eine ganze Themenwoche und blicken in sieben Folgen auf diese Schwerpunkte:

Die junge AWO

Eltern & Familie

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Migration & Integration

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