
Detmold. Gebeugt, mit schwankendem Schritt, wird Reinhold Hanning zur Anklagebank geführt und nimmt zwischen seinen beiden Verteidigern Andreas Scharmer und Johannes Salmen Platz. Der Mann, der als SS-Wachmann in Auschwitz Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen geleistet haben soll, steht seit gestern vor dem Detmolder Landgericht unter Vorsitz von Anke Grudda.
Hanning verharrt in einer starren Haltung, die Hände auf dem Schoß verschränkt, den Blick zum Boden, als die Journalisten minutenlang ihre Kameras auf ihn richten. Aschfahl ist sein Gesicht, das Tweed-Sakko, das er über seinem gestreiften Hemd und dem gelben Pullunder trägt, wirkt viel zu groß für diesen kleinen, eingefallenen Mann.
Kein Wort, keine Regung. Er blickt nicht auf, als die Verteidiger sich gleich zu Beginn zehn Minuten zur Beratung zurückziehen. Und er blickt auch nicht auf, als Salmen einige Dinge zur Person sagt: Hanning, 1921 in Helpup geboren, wächst mit zwei jüngeren Schwestern in einer Arbeiterfamilie in Billinghausen auf. Er verlässt mit 14 die Volksschule, arbeitet in einer Fahrradfabrik und geht 1940 „zum Militär", wie Salmen sagt. Im Mai 1945 gerät er in englische Kriegsgefangenschaft, drei Jahre später wird er entlassen, arbeitet zunächst ein Jahr als Koch, danach erst als Fahrer und Verkäufer in einem Molkereifachgeschäft in Lage, das er 1964 übernimmt und bis zur Rente 1984 führt.

Johannes Salmen verzichtet bewusst auf den SS-Begriff. Hanning hatte im Ermittlungsverfahren zwar zugegeben, als Angehöriger des SS-Totenkopfsturmbanns im KZ Auschwitz I (Stammlager) eingesetzt gewesen zu sein. Die Verwertbarkeit der damaligen Vernehmung zweifelt der Verteidiger aber nun an.
Konzept „Platzhalter" geht nicht ganz auf
Beim Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning in Lüneburg hatten Bürgerrechtsgruppen zu der Aktion „Platzhalter" aufgerufen. Bürger reihten sich in die Schlange vor dem Gerichtssaal ein und gaben den Platz an Angehörige von Nebenklägern ab. Mit dem Verfahren sollte auch verhindert werden, dass Rechte oder Holocaust-Leugner in den Saal gelangen konnten. In Detmold funktionierte das teilweise. Die Zuhörer wurden einzeln kontrolliert und es gab Platzkarten. Wer den Saal verließ, verlor das Anrecht auf den Platz. In der Schlange draußen war aber nicht sofort klar, wer dafür nachrücken sollte. Außerdem konnte niemand aus dem Saal gerufen werden, der seinen Platz weitergeben konnte, denn Handys mussten am Eingang abgegeben werden.Als Oberstaatsanwalt Andreas Brendel 25 Minuten lang die Anklageschrift mit all den grausamen Details aus dem KZ Auschwitz verliest, blickt Hanning immer noch zu Boden. Brendel erklärt, wie das Gift Zyklon B wirkte: „Die Leichen lagen häufig in halbkauernder Position, die Haut mit grünen Punkten überzogen, Schaum vor dem Mund oder aus den Ohren blutend in den Gaskammern."
Dann tritt mit Leon Schwarzbaum (94) der erste Holocaust-Überlebende in den Zeugenstand. 35 Mitglieder seiner Familie seien getötet worden, erzählt er: „Die Nazis haben mein Leben zerstört." Die Bilder aus Auschwitz verfolgen ihn. „Ich verstehe nicht, warum all diese Menschen ermordet wurden", sagt er und fordert eine Erklärung von Hanning. Der schaut für den Bruchteil einer Sekunde hoch. Leon Schwarzbaum wird am heutigen Prozesstag nochmals aussagen müssen. Ob ihm das möglich sei, fragt Richterin Grudda einfühlsam. „Gerne", antwortet er ohne zu zögern.
Die verschiedenen Bereiche und Funktionen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau im Drohnenflug erklärt: