Besuch in Auschwitz: Wie Schüler das ehemalige Vernichtungslager erleben

Krakau. Sobald die Bremsen quietschen und der Zug hält, eilt der Arzt herbei. Flüchtig begutachtet er die Ankömmlinge an der Rampe – und sortiert sie mit einer schnellen Handbewegung. In drei Sekunden entscheidet er über Leben oder Tod. Wer noch bei Kräften ist, kommt ins Arbeitslager. Schwangere, Ältere und Mütter mit Kindern schickt der Mediziner direkt in die Gaskammern. Wenn sich deren Türen schließen, öffnen sich die Dosen. Das Giftgas Zyklon B strömt aus, die 700 Insassen ersticken in Minuten. Mithäftlinge müssen die Leichen in ein Krematorium hieven. Dort brechen sie ihnen goldene Zähne aus dem Mund und schneiden ihnen die Haare ab. Dann werden die Leichen angezündet. Die Asche streuen die Nazis später in umliegende Bäche oder verwenden sie für den Straßenbau. Als Lars, Nisa und Naz vor der gläsernen Wand stehen und auf meterhohe Berge von Haarzöpfen starren, wirken sie wie eingefroren. Vor den drei Schülern der Janusz Korczak-Gesamtschule aus Neuss türmen sich die Haarbüschel von 40.000 Frauen. Die hatten die Nazis den Insassen abschneiden lassen, um daraus Filz herzustellen und zu verkaufen. Insgesamt fanden die Soldaten der Roten Armee bei der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz allein sieben Tonnen Haare. Tausende Schuhe von im KZ ermordeten Menschen Noch schlimmer ist für die Jugendlichen aus NRW bei ihrem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz der Raum auf der anderen Seite der Treppe. Hier stapeln sich Tausende ausgelatschte Lederschuhe, die die Häftlinge vor ihrem Tod ausziehen mussten. Einige Schuhe sind nicht größer als ein Handballen. Sie gehörten Kindern, von denen mehr als 230.000 in Auschwitz getötet wurden. &bdquo;Wie kann man als Mensch dafür stehen? Ekelhaft!“, sagt der 16-jährige Lars wenig später. &bdquo;Mir wurde direkt übel. Ich habe mich für unsere Vorfahren geschämt.“ Lesen Sie auch: Jüdische Nachfahren aus den USA sind gerührt von Stolpersteinen im Kreis Höxter 14 Schülerinnen und Schüler der Neusser Gesamtschule haben jetzt mit NRW-Schulministerin Dorothee Feller die Gedenkstätte Auschwitz besucht. Dem Land NRW sei es ein &bdquo;besonderes Anliegen“, allen Schülerinnen und Schülern im Laufe ihrer Schulzeit die Gelegenheit zu geben, eine Gedenkstätte zu besuchen, sagt Feller. Das begrüßt auch der Holocaust-Überlebende Herbert Rubinstein aus Düsseldorf. &bdquo;Es ist unbedingt notwendig, nicht nur ein KZ zu besuchen, sondern auch, dass die Menschen über die Geschichte sprechen.“ Der 88-Jährige stellt &bdquo;eindeutig“ ein erneutes Aufflammen des Antisemitismus fest. Der Auschwitz-Besuch fällt in eine besondere Zeit Der Besuch von Auschwitz fällt in eine besondere Zeit. Das Lager wurde auf den Tag genau vor 80 Jahren befreit. Der 27. Januar gilt in Deutschland seit 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, seit 2005 auch international. Zum 80. Jahrestag kehren rund 50 Überlebende zurück. Holocaust-Überlebender aus NRW: &bdquo;Die Spirale der Gewalt dreht sich schneller“ Auschwitz ist heute weltweit das Symbol für den Holocaust, also die systematische Ermordung der Juden, sowie für den nationalsozialistischen Rassenwahn. Auf einer riesigen Fläche unweit der polnischen Stadt Krakau errichteten die Nazis dort 1940 sowohl ein Arbeitslager für Häftlinge als auch ein Vernichtungslager, in dem Menschen nur Stunden nach ihrer Ankunft umgebracht wurden. Viele Überreste werden jährlich von mehr als 1,5 Millionen Besuchern besichtigt. Schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen ermordet Weil die Nazis nicht nur Leichen, sondern auch fast sämtliche Papiere verbrannten, sind keine exakten Opferzahlen überliefert. Doch die Zahl der Getöteten wird auf 1,3 Millionen Menschen geschätzt, darunter 1,1 Millionen Juden, von denen ein Drittel aus Ungarn kam. Die zweitgrößte Gruppe unter den Opfern waren polnische Gefangene wie zum Beispiel Politiker; darauf folgten russische Soldaten sowie Sinti und Roma. Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Auschwitz Memorial and Museum (@auschwitzmemorial) Errichtet wurde Auschwitz auch deshalb, weil die Nazis um SS-Chef Heinrich Himmler das hunderttausendfache Erschießen der Juden als zu belastend empfanden. &bdquo;Wir müssen das unpersönlich machen“, soll Himmler gesagt haben. Deshalb vergasten SS-Soldaten die Juden zunächst in Lkw – und später in den Konzentrationslagern. Bis zu 96.000 Häftlinge in Auschwitz-Birkenau Drei Kilometer vom Stammlager Auschwitz entfernt, ließ die SS das Vernichtungslager Birkenau errichten. Das heißt so, weil es an einen Birkenwald angrenzte. Dort lebten bis zu 96.000 Häftlinge in 400 Baracken, umgeben von einem 17 Kilometer langen elektrischen Stacheldraht-Zaun. &bdquo;Wir stehen hier auf dem größten Friedhof der Welt“, sagt Nataliia Tkachenko im Beisein der Besuchergruppe aus NRW. Auf diesem Gelände, das 190 Hektar umfasste, sind heute noch immer die Bahnschienen zu sehen, auf denen die Züge mit Viehwaggons voller Menschen anrollten – um den Großteil in den Tod zu schicken. Einige KZ-Häftlinge starben nach wenigen Stunden, andere nach viereinhalb Jahren – durch Hungertod, Krankheiten, Experimente der Mediziner, oder indem sie sich bewusst den Zäunen näherten, um von Wächtern erschossen zu werden. Als Soldaten der sowjetischen Armee das Lager am 27. Januar 1945 befreiten, trafen sie noch auf rund 7.000 Insassen. Zehntausende hatte die SS zuvor auf Todesmärschen Richtung Westdeutschland geschickt. Viele der Verbliebenen in Auschwitz starben in den nächsten Tagen trotz medizinischer Versorgung. Oftmals konnten sich ihre Körper nach Jahren des Hungerns nicht schnell genug an die Nahrungsaufnahme gewöhnen. Von den bis zu 8.500 SS-Soldaten in Auschwitz wurden knapp 900 von Gerichten verurteilt. Viele wurden nach ein paar Jahren entlassen. Ein Großteil der Juden wollte Europa in den Folgejahren in Richtung Amerika und Palästina verlassen – und nicht über das Erlebte sprechen. &bdquo;Viele Überlebende sagen uns: Von Auschwitz kann man sich nicht befreien“, berichtet der Leiter des Bildungszentrums Auschwitz, Andrzej Kazorzyk. Die wenigen Überlebenden waren auch nach der Nazi-Zeit in Teilen der Gesellschaft unerwünscht. Die Rede ist von einer spätnazistischen Phase in Deutschland, die bis Ende der 50er Jahre anhielt. Der anfangs versteckte Antisemitismus trat mit der Zeit erneut immer deutlicher zutage. Die Geschichte kommt wieder Inzwischen erreichen antisemitische Straftaten neue Höchststände – vor allem seit dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023. Laut neuster Umfrage eines Zusammenschlusses jüdischer Organisationen wissen 40 Prozent der 18- bis 29-Jährigen nicht, dass während der NS-Zeit bis zu sechs Millionen Juden getötet wurden. Zugleich befürchten 61 Prozent der Befragten, dass ein Verbrechen wie der Holocaust heute erneut geschehen könnte. Lesen Sie auch: Gedenken an die Holocaust-Opfer: Der Schrecken muss in Erinnerung bleiben &bdquo;Die Geschichte kommt wieder“, sagt auch Kazorzyk vom Bildungszentrum. Für Ministerin Feller ist das vor dem &bdquo;Hintergrund des hier Erlebten“ umso &bdquo;schwerer auszuhalten“. Deshalb sei es wichtiger denn je, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sagt Kazorzyk im Gespräch mit den jungen Besuchern aus NRW. &bdquo;Ich bin fest davon überzeugt, dass Eure Generation diese Geschichte heute braucht.“ Auch Rubinstein, der den Holocaust überlebt hat, fordert, dass das Gespräch unbedingt &bdquo;erhalten“ bleiben müsse. &bdquo;Wenn nicht, dann ist eine Wiederholung von so Schlimmen ohne Weiteres möglich.“

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