Der britische Journalist Nick Paton Walsh (43) hat schon viel erlebt und bewegt, seit er im Jahr 2011 beim amerikanischen Fernsehsender CNN angeheuert hat. Für Reportagen aus Afghanistan, Syrien und aus dem Irak hat er Preise gewonnen. Oft haben seine Enthüllungen Politiker weltweit nicht nur beeindruckt, sondern auch beeinflusst.
Jetzt staunen viele erneut über Paton Walsh. Der Mann hat aus der traditionell unzugänglichen Bürokratie Chinas ein 117 Seiten umfassendes Dokument zum Beginn des Corona-Ausbruchs vor einem Jahr in Wuhan herausgeschüttelt. „Die Wuhan-Akten” – so überschrieb Paton Walsh seine Story. Ein Leak dieser Art gab es bislang nie im China des Xi Jinping.
Die Dokumente beschreiben die anfangs chaotischen Zustände in der Provinzhauptstadt Wuhan – eine Episode, von der die Führung in Peking nichts mehr wissen will. Nach dem Willen von Xi soll ins Bewusstsein der Welt die Deutung einsinken, sein mit harter Hand geführtes China sei schlicht und einfach dem Westen überlegen – und deshalb coronafrei.
Beschönigt, verzögert, überfordert
Die wahre Geschichte aber ist, wie jetzt die „Wuhan-Akten” zeigen, weniger ruhmreich. Drei zentrale Punkte ragen heraus.
Immer wieder stellten die Behörden, absichtlich oder nicht, die Lage im Ergebnis besser da, als sie war. Am 10. Februar 2020, als Präsident Xi sich per Videobotschaft ans Klinikpersonal in Wuhan wandte, berichteten die Behörden offiziell von über 2478 Neuinfektionen. Für den gleichen Tag notiert ein als „vertraulich” gekennzeichnetes internes Dokument allein in der Provinz Hubei 5.918 neue Fälle. Schlechte Nachrichten behielten die Behörden für sich, darunter auch den vor dem 10. Februar in den „Wuhan-Akten" notierten Corona-Tod von sechs Klinik-Mitarbeitern.
Während das Regime so tat, als greife es allerorten schnell und hart durch, wurde im tatsächlichen Umgang mit den Patienten überraschend viel Zeit vertrödelt. Laut den „Wuhan-Akten" vergingen noch im März zwischen dem Auftreten erster Symptome und einer bestätigten Covid-19-Diagnose durchschnittlich 23,3 Tage. Westliche Experten zeigten sich über diese Daten verblüfft.
Peking sieht Italien als Ausgangspunkt des Virus
Zeitgleich grassierte damals in Wuhan und zwei Nachbarstädten eine konventionelle Grippewelle. Registriert wurden 20 mal mehr Infizierte als im Vorjahr. Welchen Einfluss dies hatte, ist noch unerforscht; möglich wäre eine Überforderung des Gesundheitswesens – oder sogar dessen Beteiligung an der Verbreitung des Coronavirus, durch volle Arztpraxen und Kliniken.
Peking lehnte einen Kommentar zu der CNN-Veröffentlichung ab. Die staatlich zensierten chinesischen Medien setzten indessen ihre Kampagne fort, wonach eine genetische Veränderung des Virus in Italien der eigentliche Ausgangspunkt der weltweiten Ausbreitung sei. Ähnliche Theorien hatte der deutsche Virologe Alexander Kekulé in der ZDF-Sendung „Markus Lanz" geäußert.