Berlin (dpa/epd). Mit strengen Kontaktbeschränkungen für die Bürger und einem Herunterfahren fast aller Freizeitaktivitäten wollen Bund und Länder die zweite Corona-Infektionswelle in Deutschland brechen. Vor dem Hintergrund dramatisch steigender Infektionszahlen einigten sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten am Mittwoch auf die einschneidendsten Schritte seit dem großen Lockdown im Frühjahr.
So sollen unter anderem Hotels, Restaurants, Kinos und Theater ab dem kommenden Montag für den gesamten Monat November schließen. In dieser Zeit dürfen sich auch nur wenige Menschen privat treffen. Merkel rief zu einer „nationalen Kraftanstrengung" auf und betonte: „Wir müssen handeln, und zwar jetzt. Und zwar müssen wir handeln, um eine akute nationale Gesundheitsnotlage zu vermeiden." Schulen, Kitas und Geschäfte sollen aber anders als im Frühjahr offen bleiben.
Konkret vereinbarten Bund und Länder diese Punkte:
KONTAKTBESCHRÄNKUNGEN
Der gemeinsame Aufenthalt in der Öffentlichkeit wird nur noch Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes - insgesamt maximal zehn Personen - gestatten sein. Verstöße gegen diese Kontaktbeschränkungen sollen die Ordnungsbehörden sanktionieren. Darüber hinausgehende Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen gelten als inakzeptabel.
PRIVATE REISEN
Die Bürgerinnen und Bürger werden aufgefordert, generell auf nicht notwendige private Reisen und Besuche - auch von Verwandten - zu verzichten. Das gilt auch im Inland und für überregionale touristische Tagesausflüge. Übernachtungsangebote im Inland soll es im November nur noch für notwendige und ausdrücklich nicht touristische Zwecke geben.
VERANSTALTUNGEN
Veranstaltungen, die der Unterhaltung dienen, werden einen Monat lang untersagt. Profisportveranstaltungen dürfen nur ohne Zuschauer stattfinden.
FREIZEITEINRICHTUNGEN
Theater, Opern- und Konzerthäuser, Museen, Messen, Kinos, Freizeitparks, Spielhallen, Spielbanken, Wettannahmestellen, Bordelle, Schwimm- und Spaßbäder, Saunen, Thermen, Fitnessstudios und ähnliche Einrichtungen werden geschlossen. Nicht erlaubt ist auch der Freizeit- und Amateursportbetrieb mit Ausnahme des Individualsports allein, zu zweit oder mit dem eigenen Hausstand auf und in allen öffentlichen und privaten Sportanlagen.
GASTRONOMIE
Restaurants und Lokale, Bars, Clubs, Diskotheken, Kneipen und ähnliche Einrichtungen müssen zu bleiben. Davon ausgenommen ist die Lieferung und Abholung von Speisen für den Verzehr zu Hause sowie der Betrieb von Kantinen.
DIENSTLEISTUNGEN
Schließen müssen auch Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe. Medizinisch notwendige Behandlungen wie Physio-, Ergo- und Logotherapien sowie Fußpflege bleiben weiter möglich. Auch Friseursalons können öffnen.
HANDEL
Der Groß- und Einzelhandel bleibt unter Auflagen zur Hygiene, zur Steuerung des Zutritts und zur Vermeidung von Warteschlangen insgesamt geöffnet - ein großer Unterschied zum umfassenden Lockdown im Frühjahr. In den Geschäften darf sich nicht mehr als ein Kunde pro zehn Quadratmetern Verkaufsfläche aufhalten.
SCHULEN, KITAS UND GOTTESDIENSTE
Auch Schulen und Kindergärten bleiben offen - ein weiterer Unterschied zur Situation im Frühjahr. Auch Gottesdienste sollen nach den Worten von Kanzlerin Merkel weiterhin erlaubt sein. Allerdings müssten die Hygienekonzepte unbedingt eingehalten werden. Nach den Worten von Bayerns Ministerpräsident Söder sind Eingriffe in die Religions- und Versammlungsfreiheit besonders sensibel.
HILFEN FÜR UNTERNEHMEN
Den von den Schließungen betroffenen Betrieben, Selbstständigen, Vereinen und Einrichtungen gewährt der Bund eine außerordentliche Wirtschaftshilfe, um sie für finanzielle Ausfälle zu entschädigen. Diese soll ein Finanzvolumen von bis zu zehn Milliarden haben. Der Bund wird auch Hilfsmaßnahmen für Unternehmen verlängern und die Konditionen für die hauptbetroffenen Wirtschaftsbereiche verbessern. Dies betrifft zum Beispiel den Bereich der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft und die Soloselbstständigen. Außerdem wird der KfW-Schnellkredit für Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten geöffnet und angepasst.
REAKTIONEN
Die verschärften Maßnahmen von Bund und Ländern zur Eindämmung der Corona-Pandemie stoßen auf unterschiedliche Reaktionen. Der Deutsche Städtetag begrüßte die Beschlüsse am Donnerstag als „klares politisches Signal, das wir jetzt brauchen". Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) hingegen bezeichnete die geplanten Schließungen in der Gastronomie als bitter und erklärte, viele Betriebe erwögen bereits zu klagen. Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) kritisierte die Corona-Regeln scharf und rief zu Klagen dagegen auf.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gab am Donnerstag um 9 Uhr im Bundestag in Berlin eine Regierungserklärung zur Bewältigung der Krise ab. In der vergangenen Woche war eine Diskussion um die Beteiligung des Parlaments bei Entscheidungen über eingreifende Maßnahmen in der Corona-Pandemie entbrannt.
Städtetagspräsident Burkhard Jung (SPD) sagte der Düsseldorfer Rheinischen Post, es sei „besser, jetzt entschlossen zu handeln, als später mit Versäumnissen zu hadern". Das vorübergehende Herunterfahren der Kontakte auf das Nötigste sei schmerzhaft, erklärte der Leipziger Oberbürgermeister. Es verändere das Miteinander in den Städten spürbar. „Wir hoffen sehr, dass bis zum Dezember die Infektionen deutlich zurückgegangen sind und die jetzt beschlossenen harten Regeln wieder gelockert werden können", sagte er.
"Massiver Ausbau von Schnelltests in Altenpflege und Kliniken"
Auch die Stiftung Patientenschutz bezeichnete die Beschlüsse als wichtig und überfällig. Die größte Gefahr gehe von privaten Kontakten, Festen und Zusammenkünften aus, sagte Vorstand Eugen Brysch. Es gelte, solche Treffen herunterzufahren und den Einsatz von Schnelltests in Altenpflege und Kliniken massiv auszubauen. „Pflegebedürftige, Schwerstkranke und die Menschen der Hochrisikogruppe brauchen jetzt Schutz und Solidarität", betonte Brysch.
Dehoga-Hauptgeschäftsführerin Ingrid Hartges sagte, die Schließung der Gastronomiebetriebe ab dem 2. November für vier Wochen sei bitter für Mitarbeiter und Unternehmer. Das Verbot aller touristischen Übernachtungen komme einer „faktischen Schließung" gleich. „Viele Unternehmen erwägen bereits zu klagen", sagte Hartges den Zeitungen der Essener Funke Mediengruppe. Sie forderte eine schnelle und unbürokratische Auszahlung der zugesagten Milliardenhilfen an alle Unternehmen der Gastronomie, Hotellerie und der Cateringwirtschaft.
Kubicki: "Rechtliche Mittel einlegen!"
Kubicki sagte der Rheinischen Post, er halte die aktuellen Beschlüsse in Teilen für rechtswidrig. „Wenn die Runde der Regierungschefs Maßnahmen verabredet, die bereits mehrfach von Gerichten aufgehoben wurden, wie das Beherbergungsverbot, dann ignorieren die Beteiligten bewusst die Gewaltenteilung", kritisierte er. „Ich rufe alle Betroffenen auf, rechtliche Mittel gegen diese Maßnahmen einzulegen."
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, mahnte in der Corona-Krise sinnvolle Gegenmaßnahmen ohne Willkür-Charakter an. Es könne nicht sein, dass beispielsweise bei Beerdigungen - also Feiern, die nie wieder wiederholbar seien - einfach bestimmte Zahlengrenzen von fünf bis zehn Personen gesetzt würden, sagte Bedford-Strohm dem Bayerischen Rundfunk in einem am Donnerstag veröffentlichen Interview.
Wie das Robert Koch-Institut (RKI) am Donnerstagmorgen mitteilte, meldeten die Gesundheitsämter für den Vortag 16.774 neue Corona-Infektionen. Das ist neuer Höchststand. 89 weitere Menschen starben im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion. Damit erhöhte sich die Zahl der Todesfälle in Deutschland auf 10.272. Insgesamt ist laut RKI die Zahl der in Deutschland registrierten Infektionen seit dem Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr auf 481.013 gestiegen.