Hochwasserkatastrophe

Staatsanwaltschaft prüft Ermittlung wegen fahrlässiger Tötung im Ahrtal

Haben die Behörden in den überfluteten Gebieten die Warnungen des Katastrophenschutzes zu spät befolgt? Die Staatsanwaltschaft sieht einen Anfangsverdacht.

Ein mit Matsch verschmiertes Plüschtier liegt bei Ahrweiler auf dem Boden. | © picture alliance/dpa

02.08.2021 | 02.08.2021, 18:03

Koblenz (dpa/afp). Die Staatsanwaltschaft Koblenz prüft nach der Flutkatastrophe im Ahrtal die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung.

Dabei gehe es um möglicherweise unterlassene oder verspätete Warnungen oder Evakuierungen der Bevölkerung, teilte die Behörde am Montag mit.
In diese Prüfung sollen neben der „umfangreichen Presseberichterstattung" auch Feststellungen aus Todesermittlungsverfahren sowie allgemeine polizeiliche Hinweise aus der Katastrophennacht vom 14./15. Juli einbezogen werden. Gegen wen sich der Anfangsverdacht richtet, wurde in der Mitteilung nicht gesagt.

Am Wochenende waren erneut Fragen im Zusammenhang mit dem Krisenmanagement in der Nacht des Unwetters laut geworden. Nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung soll trotz präziser Warnungen erst spät der Katastrophenfall ausgerufen worden.

Landrat rechtfertigt sich: "Technisch nicht vorbereitet"

Bereits am Nachmittag des 14. Juli veröffentlichte das Landesumweltamt demnach Prognosen, die einen Pegelstand der Ahr von deutlich mehr als dem vorherigen Höchststand von 3,7 Meter vorhersagten. Am Abend habe es dann neben den Mails auch weitere Online-Informationen der Landesbehörde gegeben. Darin sowie in den Mails an die Kreisverwaltung sei gegen 21.30 Uhr ein erwarteter Pegelstand von fast sieben Metern genannt worden. Dennoch habe der Landkreis erst gegen 23 Uhr den Katastrophenfall ausgerufen und Evakuierungsmaßnahmen eingeleitet.

In einer ersten Reaktion hatte die Kreisverwaltung Ahrweiler mitgeteilt: "Wir sind derzeit aber noch immer dabei, die Katastrophenlage zu bewältigen. Oberste Priorität hat für den Kreis und Landrat Dr. Jürgen Pföhler die Versorgung der Menschen im Flutgebiet wieder herzustellen. Hieran arbeiten alle Beteiligten gewissermaßen 'rund um die Uhr'."

Dem Bonner General-Anzeiger hatte Pföhler, der selbst durch die Flutkatastrophe sein Haus verloren hat, kritisiert, "gegenseitige Schuldzuweisungen" würden "den Ernst der Lage" verkennen. Die "Fragen nach den Verantwortlichkeiten" müssten später "sehr sorgfältig aufgearbeitet werden". Für ihn stehe "schon jetzt fest, dass alle vorhandenen Warn- und Alarmierungssysteme auf diesen nie dagewesenen Tsunami technisch nicht vorbereitet waren", zitierte die Zeitung Pföhler.

Zahl der Toten steigt auf 138

Die Zahl der Menschen, die in der Flutkatastrophe im Ahrtal ihr Leben verloren haben, ist am Montag auf 138 gestiegen. Weiterhin vermisst werden 26 Bewohner, wie Florian Stadtfeld vom Polizeipräsidium Koblenz mitteilte. Identifiziert seien bislang 106 Menschen.

Der Staatsanwaltschaft liegen nach eigenen Angaben zudem weitere polizeiliche Erkenntnisse zum Tod von zwölf Menschen in einer Betreuungseinrichtung in Sinzig vor. In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli waren zwölf Menschen mit Behinderung in einer Einrichtung der Lebenshilfe gestorben. Auch diese sollen ausgewertet werden, ob sich daraus der Anfangsverdacht von Straftaten ergebe.

Die Prüfung werde etwas Zeit benötigen, erklärte Oberstaatsanwalt Harald Kruse. „Zum einen wäre es fatal, Menschen, die in der Katastrophennacht sicherlich schwierige Entscheidungen zu treffen hatten, auf einer unvollständigen Tatsachengrundlage mit Ermittlungen zu überziehen", erklärte er. Zum anderen gelte, dass Ermittlungen gegebenenfalls umso zielgerichteter geführt werden könnten, je fundierter der Anfangsverdacht geklärt werde.

7.500 Anträge auf Soforthilfe bewilligt

Nach der Flutkatastrophe wurden bislang mehr als 15 Millionen Euro aus der Soforthilfe des Landes an Bewohner des Ahrtals ausgezahlt. Wie das Statistische Landesamt am Montag weiter mitteilte, wurden bislang rund 7.500 Anträge bewilligt. 1.600 Anträge seien mehrfach eingereicht worden. Eine dreistellige Zahl von Anträgen werde noch bearbeitet, da bei ihnen noch Fragen zu klären seien wie etwa Zahlendreher in Kontoverbindungen oder unklare Adressangaben.

Die Soforthilfe von maximal 3.500 Euro je Haushalt soll akute Notlagen finanziell überbrücken. Sie ist nicht als Aufbauhilfe oder zur Deckung entstandener Schäden gedacht. Voraussetzung für eine Soforthilfe sind laut Landesamt grundsätzlich Schäden von über 5.000 Euro abzüglich Versicherungsleistungen. Neben der Soforthilfe für Privatleute gibt es kurzfristige finanzielle Unterstützung auch für Unternehmen und Kommunen in dem betroffenen Gebiet.

Wie künftig besser gewarnt werden soll

Bundesinnenminister Horst Seehofer will infolge der Flutkatastrophe Warnungen per Cell Broadcasting möglichst schnell einführen, spätestens bis Sommer 2022. Das System ermöglicht, zusätzlich zu bestehenden Warnsystemen, automatische Warnmeldungen an alle im betroffenen Gebiet in Mobilfunkmasten eingewählten Handys.

Experten hatten kritisiert, dass dieses von der EU seit Jahren geforderte Warnsystem in Deutschland noch nicht installiert war, als der Starkregen in NRW und Rheinland-Pfalz mehr als 100 Menschen das Leben kostete.