
Berlin. Als die US-amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez jüngst auf der Streamingplattform Twitch online ging, schalteten mehr als 400.000 Zuschauer ein - ein Spitzenwert für einen einzelnen Streamer. Dabei streamte die 31-Jährige nicht eine politische Rede oder einen Auftritt im derzeit laufenden US-Wahlkampf. Zu sehen waren vielmehr mehrere Partien des derzeit äußerst populären Computerspiels „Among Us".
Zwar nutzte Ocasio-Cortez die Einschaltquote auch für politische Statements und wurde dafür scharf kritisiert. Aufsehen erregte aber vielmehr die Tatsache, dass eine Politikerin ein Spiel spielte, das sich auf Plattformen wie Twitch oder Youtube momentan großer Beliebtheit erfreut.
Einfaches Spielprinzip
Das Prinzip von „Among Us" ist schnell erklärt. Bis zu zehn Spieler starten beispielsweise auf einem beschädigten Raumschiff und müssen dieses reparieren. Die Triebwerke wollen neu betankt, die Schilde wieder aufgeladen werden. Sind alle Aufgaben erledigt, hat die Mannschaft gewonnen. Doch mindestens eines der Crewmitglieder spielt ein falsches Spiel. Der Imposter (engl.: Betrüger, Hochstapler) hat den Auftrag, die Reparaturen zu sabotieren oder gar seine Mitspieler eiskalt zu meucheln.
Wird eine Leiche entdeckt, kann diese gemeldet werden. Dann kommen alle verbleibenden Spieler zusammen und beratschlagen, wer es gewesen sein könnte. Gut, wenn man da ein glaubhaftes Alibi hat. Denn am Ende der Diskussionsrunde kann einer der Spieler von Bord in die tödliche Stille des Weltalls geworfen werden und ist raus aus dem Spiel. Allzu oft kommt es vor, dass Unschuldige von Bord geworfen werden, weil es den bis zu drei Impostern gelingt, die Crew nach Strich und Faden zu belügen, falsche Fährten zu legen und von sich abzulenken. Das Spiel geht dann solange weiter, bis das Schiff repariert wurde, der Imposter gewonnen hat oder von Bord geworfen wurde.
Spiel ist seit 2018 auf dem Markt
Das Kuriose an dem Erfolg des Spiels: Es ist bereits seit Mitte 2018 auf dem Markt, flog seitdem aber unter dem Radar der Community. Kurz nach der Veröffentlichung durch das Indie-Studio Innersloth tummelten sich gerade einmal bis zu 50 Spieler gleichzeitig auf den Servern. Zeitweise soll es gar schwierig gewesen sein, die Mindestanzahl von fünf Spielern zusammen zu bekommen.
Doch seit diesem Sommer sind die Spielerzahlen förmlich explodiert. Ein Stream des Twitch-Streamers Chance "Sodapoppin" Morris machte das Spiel gewissermaßen über Nacht populär. Mittlerweile streamen auch deutsche Internetgrößen wie PietSmiet oder Unge „Among Us"-Partien, die Spielerzahl wurde zwischenzeitlich mit etwa 1,5 Millionen weltweit angegeben. Zum Vergleich: Der in der E-Sport-Szene beliebte Evergreen Counter-Strike: Global Offensive verzeichnete im Dezember 2019 durchschnittlich 450.000 Spieler gleichzeitig.
"Das Ganze kommt rüber, wie eine Krimishow"
Vielleicht ist es das simple Spielprinzip, die einfache Grafik und die minimalen technischen Voraussetzungen, die das Spiel momentan so beliebt machen. Jens Junge hat noch einen anderen Erklärungsansatz. „Der Erfolg liegt bei Twitch und im Multiplayer. Das Ganze kommt rüber, wie eine Krimishow", sagt der Spielwissenschaftler, der an der Design Akademie Berlin, SRH Hochschule für Kommunikation und Design lehrt. Zudem ist Junge seit 2014 Direktor des Instituts für Ludologie. „Among Us" ist ein Social-Deduktion-Spiel.
„Das ist ein uraltes Spielprinzip. Es liegt ein Rätsel vor, das nur durch Ausprobieren und durch Logik gelöst werden kann." Diese Art von Spielen wird übrigens auch bei Brettspielern immer beliebter. Egal ob die Werwölfe vom Düsterwald, Secret Hitler oder Battlestar Galactica - soziale Deduktion hält auch am Brettspieltisch Einzug.
Doch müssen wir uns Sorgen machen, wenn wir ein Spiel spielen, bei dem Freunde und Familienmitglieder belogen und betrogen werden? Bei denen wir unsere Lieben ans Messer liefern, nur um nicht selbst dran glauben zu müssen? Nein, sagt der Spielwissenschaftler. „Die eigene emotionale Stabilität wird trainiert. Es geht darum, sich auf sich selbst und andere einlassen zu können. Die eigenen Sensoren werden dadurch geschärft und die Variabilität des eigenen Verhaltens wird trainiert."
Ausbruch aus der kontrollierten digitalen Welt
Generell sei das analoge oder digitale Spielen mehr, als nur bloßes Daddeln. „Das Spiel holt uns aus der Realität heraus", sagt Junge. „Wir können den Alltag links liegen lassen und einen anderen Erfahrungsraum betreten. In diesem Raum können wir uns selbst austesten, die Persönlichkeit und den Charakter üben." Das Lügen etwa wird in der Gesellschaft als verwerflich betrachtet. „Aber gerade das macht den Reiz der Social-Deduction aus. Gerade in Corona-Zeiten ist etwa „Among Us" eine gute Möglichkeit, um aus der kontrollierten digitalen Welt auszubrechen."
Bei Computerspielen gebe es mittlerweile eine gesellschaftliche Akzeptanz. Brettspiele sind davon noch recht weit entfernt. Für Junge schaffen aber auch Brettspiele Erfahrungsräume, „mit denen wir später etwas anfangen können." Es finde ein indirekter Lernprozess statt.
„Deshalb verstehe ich es nicht, weshalb sich die Politik dem immer noch verschließt und das Kulturgut Spiel nicht ausreichend wahrnimmt." Allerdings tut sich etwas. Momentan gibt es Bestrebungen, das Brettspiel selbst auf die Deutschlandliste des Immateriellen Kulturerbes zu bringen. Für Junge ein wichtiger Schritt. „Wir brauchen Spiele, um Gesellschaft und Kultur zu entwickeln."