Sie werden sich wohl auch durch dieses Desaster wursteln. So wie sie die Kanzlerwahl im zweiten Anlauf geschafft und so wie sie doch noch Richter fürs Verfassungsgericht gefunden haben. Es ist kaum vorstellbar, dass eine Bundesregierung an diesem Freitag an der Frage scheitert, nach welchen Kriterien eine Rentenreform für die Zeit nach 2031 gestaltet wird.
Aber nicht Einsicht oder gar Übereinstimmung bewegt viele Abgeordnete der Union zur Koalitionsdisziplin, sondern die Furcht vor der Alternative. Sie profitieren zudem vom Verantwortungsbewusstsein der Linken, die sich enthalten und so die Hürden für die Regierungsmehrheit senken.
Was mag Olaf Scholz heute denken, als einfacher Abgeordneter? Vor zwei Jahren prophezeite der damalige Oppositionsführer Merz dem damaligen Kanzler, dass er die Vertrauensfrage stellen müsse, wenn der Streit in der Regierung nicht aufhöre. „Und wenn die Koalitionsfraktionen sich weiter so verhalten wie gegenwärtig, dann ist diese Regierung am Ende.“ Merz’ hellsichtige Prognose klingt heute wie ein Selbstgespräch.
Die Regierung Merz agiert nicht minder chaotisch
Es ist atemberaubend, in welcher Geschwindigkeit Friedrich Merz und seine Regierung ihren ohnehin nicht überragenden Vertrauensvorschuss verspielt haben, seit sie vor sieben Monaten vereidigt wurden. Die Ampel nannte Merz eine „chaotisch regierende Fortschrittskoalition“. Sein eigenes Regierungsbündnis agiert nun nicht minder chaotisch, allerdings ist noch nicht einmal Fortschritt erkennbar.
Was haben sie nicht alles versprochen zum Start des schwarz-roten Bündnisses. Dass man den Ernst der Lage erkannt habe, dass man die notwendigen Reformen angehen wolle. Von der „letzten Patrone der Demokratie“ sprach der bayerische Chefpopulist Markus Söder. Das hat ihn nicht davon abgehalten, vorrangig Partikularinteressen wie die Mütterrente oder die Steuersenkung für Gastronomen durchzusetzen.
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Es fehlt ein gemeinsames Verständnis der Koalition
Vermutlich ist das die größte Schwäche dieser Regierungskoalition: Sie definiert sich über die Addition von Einzelinteressen, die wechselseitig toleriert werden sollen, doch es fehlt ein gemeinsames Verständnis der Ziele, die über die jeweiligen Parteiprogramme hinausgehen. Ersteres ist legitim, doch ohne Letzteres führt jede nachrangige Frage, jede Durchführungsbestimmung, zwangsläufig zum Streit übers große Ganze.
Das ist besonders dramatisch in der Lage, in der sich unser Land befindet: Krieg in Europa, eine neue, multipolare Weltordnung mit einem US-Präsidenten, der vom Verbündeten zum Gegner mutiert, eine gesellschaftliche Polarisierung im Innern und eine sich verstärkende Krise der Wirtschaft – selbst in Regionen, die als besonders widerstandsfähig galten. Allein 7.000 Industriearbeitsplätze sind zuletzt in Ostwestfalen verloren gegangen, hat der IHK-Präsident in dieser Woche vorgerechnet. Die Dienstleister oder die gerade in OWL so bedeutende Gesundheitsbranche stehen vor ähnlichen, teils existenziellen Problemen.
Es ist die ureigene Aufgabe des Bundeskanzlers, in solchen Zeiten zu führen und Orientierung zu geben. Das ist schwer genug. Doch noch mühsamer wird es, wenn der Amtsinhaber bislang noch nie Regierungsverantwortung getragen hat und irrlichternd selbst ständig neue Krisenherde schafft – sei es durch unbedachte oder missverständliche Äußerungen oder eine Fehleinschätzung der eigenen Mehrheiten und Möglichkeiten.
OWL-Industrie in der Krise: Tausende Jobs sind schon weg
Verbale Kraftmeierei ist keine Regierungsstärke. Die entsteht erst mit der Einsicht, dass es Themen gibt, die bedeutender sind als die eigene Partei. Gerhard Schröder hat für die Agenda 2010 einen tiefgreifenden Konflikt mit seiner SPD riskiert. Friedrich Merz steht heute vor noch größeren Herausforderungen und gefällt sich bislang in der Rolle des Welterklärers.
Zweifel an Regierung schaden beiden Parteien
Die Menschen spüren das, wie alle Umfragen zeigen. Und die wachsenden Zweifel an der Fähigkeit dieser Bundesregierung, grundlegende Reformen auf den Weg zu bringen, schadet beiden Regierungsparteien. Sie sind mitverantwortlich dafür, wenn ein Viertel der Wählerinnen und Wähler selbst die unrealistischen, häufig menschenverachtenden oder schlichtweg absurden Vorstellungen einer rechtsextremen Partei für attraktiver hält als den gegenwärtigen Zustand. Als „Zu-spät-Koalition“ und „Zu-wenig-Koalition“ charakterisierte Merz einst die Ampel. Auch das klingt derzeit wie eine Selbsterkenntnis. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, um aus dieser Koalition schnell mehr zu machen.
In der Zeit des Barock ließen sich die Mächtigen mit diskret platzierten Todessymbolen porträtieren, um an die eigene Vergänglichkeit zu erinnern. Es gibt sogar einen lateinischen Begriff für diese schon aus der Römerzeit stammende Idee: „Vanitas“ meint zugleich die Eitelkeit und die Vergänglichkeit. Vielleicht sollte man Merz – und als stete Mahnung auch Söder, Klingbeil und Bas – einen Schädel auf den Schreibtisch stellen.