
Die gescheiterte Wahl der Staatsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin ist mehr als nur ein personalpolitisches Ereignis. Sie ist ein Spiegelbild unserer gegenwärtigen Debattenkultur, in der juristische Fachlichkeit zunehmend hinter Empörung, ideologischer Aufladung und moralischem Alarmismus zurücktritt. Das ist in den vergangenen zwei Wochen mehr als deutlich geworden.
Wer sich die Vorgänge nüchtern ansieht, erkennt: Hier wurde nicht nur eine profilierte Verfassungsjuristin beschädigt – sondern das Vertrauen in rechtsstaatliche Verfahren gleich mit.
Es ist ein zutiefst beunruhigendes Signal, wenn eine Kandidatin, die über Jahre hinweg verfassungsrechtlich lehrt, publiziert und sich zudem international engagiert, durch Kampagnen und gezielte Zuspitzung öffentlich in eine ideologische Ecke gedrängt wird. Brosius-Gersdorf wurde mit Begriffen wie „ultralinks“ und „extrem“ diffamiert – allein aufgrund wissenschaftlicher Texte, in denen sie sich, unter anderem zur Neuregelung von Paragraf 218 StGB, mit Argumenten von Verfassungsrang auseinandersetzt.
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Ausdruck eines politischen Kulturkampfs
Doch es ging hier nicht nur um eine Person, sondern um eine Haltung: Brosius-Gersdorf steht für eine wissenschaftsorientierte, grundrechtlich fundierte Rechtsprechung – eine Rechtsprechung, die nicht auf konservative Besitzstandswahrung zielt, sondern auf Gleichberechtigung, soziale Teilhabe und gesellschaftliche Modernisierung. Dass gerade diese Perspektiven – etwa auf reproduktive Selbstbestimmung, Inklusion oder den Schutz vulnerabler Gruppen – zur Angriffsfläche wurden, ist kein Zufall. Es ist Ausdruck eines politischen Kulturkampfs, in dem Fortschrittspositionen zunehmend skandalisiert statt diskutiert werden.
Die Grenze zwischen politischer Bewertung und fachlicher Auseinandersetzung scheint in dieser Debatte bewusst verwischt worden zu sein. Aber genau in dieser Trennung liegt der Kern unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsverständnisses. Ein Verfassungsgericht wird nicht durch Gesinnungsproben legitimiert, sondern durch rechtswissenschaftliche Kompetenz, methodische Strenge und institutionelle Unabhängigkeit.
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Wenn das Bestehende nicht mehr ausreicht
In ihrer ausführlichen öffentlichen Stellungnahme bei Markus Lanz (ZDF) hat Brosius-Gersdorf am Dienstagabend zahlreiche Missverständnisse und Verfälschungen ihrer juristischen Positionen klargestellt. Der wohl aufrichtigste Satz des Abends lautete: Sobald eine Beschädigung des Verfassungsgerichts auch nur drohe, halte sie an ihrer Nominierung nicht fest – „das ist ein Schaden, den kann ich gar nicht verantworten“. Das ist kein Rückzug, das ist Verantwortungsbewusstsein. Beeindruckend war insbesondere, wie ruhig sie angesichts der Angriffe blieb – und dennoch auf der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer offenen Streitkultur beharrte.
Diese Debattenkultur ist in Gefahr. Wenn mediale Stimmungsmache, parteipolitische Reflexe und gezielte Blockaden den Ausschlag bei der Wahl einer Bundesverfassungsrichterin geben, statt eine auf Argumente gegründete und an rechtsstaatlicher Eignung orientierte Bewertung einer Kandidatur, dann geraten fundamentale Prinzipien des Rechtsstaats ins Wanken.
Mehr noch: Wenn progressive, grundrechtsorientierte Positionen systematisch zur Disqualifikation herangezogen werden, ist das nicht nur eine persönliche Niederlage für eine einzelne Kandidatin – es ist ein Rückschritt für die Rechte von Frauen, für Minderheiten und für eine Rechtsprechung, die sich als dienende Kraft einer offenen, vielfältigen Gesellschaft versteht.
Der Preis politischer Spielchen
Wer aus der Berufung ans höchste deutsche Gericht eine Art Gesinnungsprüfung macht, beschädigt die Voraussetzungen, auf deren Basis dieses Gremium gerade seine Legitimität bezieht: Überparteilichkeit, Fachlichkeit, Unvoreingenommenheit. Davor haben die sogenannten Väter und Mütter des Grundgesetzes bewusst Schutzmechanismen errichtet – ein Richterwahlverfahren, das auf der Übereinkunft der im Bundestag vertretenen Parteien beruht, mit dem Ziel breiter Akzeptanz. Dies vorausgesetzt, ist es parlamentarisch legitim, aber demokratisch kurzsichtig, wenn diese Mechanismen zum Austragungsort parteipolitischer Stimmungslagen verkommen.
Auch der Druck aus außerparlamentarischen Milieus – etwa aus konservativen Lobbygruppen oder kirchlichen Netzwerken – darf nicht unterschätzt werden. Wenn diese Einfluss auf die Besetzung höchstrichterlicher Ämter gewinnen, wird das System einer rationalen, deliberativen Demokratie ersetzt durch einen Meinungskampf, in dem Lautstärke wichtiger ist als juristische Argumente.
Wer schützt den Rechtsstaat?
Kluge Menschen wie Brosius-Gersdorf wird es weiter geben. Die Frage ist: Wird unser Gemeinwesen ihnen den Raum lassen, ihre Perspektiven einzubringen – oder werden sie künftig abgeschreckt, weil der Preis dafür öffentlicher Rufmord und politischer Rückzug ist?
Eine rechtsstaatliche Demokratie lebt vom Streit – aber im Rahmen der Verfassung, mit Anstand, Argument und Maß. Im Fall Brosius-Gersdorf haben wir gesehen, wie schnell dieser Rahmen verloren gehen kann. Und wie wichtig es nun wäre, ihn mit aller Konsequenz zurückzugewinnen.