Berlin (dpa). Die von der SPD nominierte Juristin Frauke Brosius-Gersdorf will nicht länger für die Richterstelle am Bundesverfassungsgericht kandidieren. Dies teilte 54-Jährige über ihre Bonner Anwaltskanzlei mit.
„Nach reiflicher Überlegung stehe ich für die Wahl als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr zur Verfügung“, erklärte die Potsdamer Juraprofessorin demnach. „Mir wurde aus der CDU/CSU-Fraktion – öffentlich und nicht-öffentlich – in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist. Teile der CDU/CSU-Fraktion lehnen meine Wahl kategorisch ab.“
Auch drohe ein „Aufschnüren des Gesamtpakets“ für die Richterwahl. Das gefährde die beiden anderen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht, „die ich schützen möchte“, hieß es weiter. Es müsse verhindert werden, dass sich der Koalitionsstreit wegen der Richterwahl zuspitze „und eine Entwicklung in Gang gesetzt wird, deren Auswirkungen auf die Demokratie nicht absehbar sind“.
Brosius-Gersdorf wollte Schaden für Gericht vermeiden
Die Wahl von Brosius-Gersdorf und zwei weiteren Nominierten für das höchste deutsche Gericht war im Juli im Bundestag kurzfristig abgesetzt worden. Teile der Unionsfraktion hatten Vorbehalte gegen die von der SPD nominierte Brosius-Gersdorf. Als Grund wurden unter anderem Äußerungen zum Schwangerschaftsabbruch und zu einer möglichen Impfpflicht in Corona-Zeiten angeführt. Auch meldete sich kurz vor der geplanten Wahl der Plagiatssucher Stefan Weber mit Fragen zur Dissertation der Staatsrechtlerin zu Wort.
Kommentar zum Thema: Die Absage von Frauke Brosius-Gersdorf: Ein Skandal für Rechtsstaat und Demokratie
Brosius-Gersdorf hatte zunächst an ihrer Nominierung festgehalten. Sie hatte in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ aber auch erklärt, sie würde verzichten, falls dem Gericht in der Debatte Schaden drohen sollte. „Das ist ein Schaden, den kann ich gar nicht verantworten.“ Das Bundesverfassungsgericht müsse in Ruhe arbeiten können und funktionsfähig bleiben.
Die Jura-Professorin betonte damals: „Ich möchte auch nicht verantwortlich sein für eine Regierungskrise in diesem Land, weil wir nicht wissen, was dann hinterher passiert. Das sind alles Aspekte, die nehme ich unheimlich ernst und die bedenke ich.“
Geplatzte Wahl im Bundestag
Obwohl die Fraktionsführung der Union die Nominierung von Brosius-Gersdorf zunächst mitgetragen hatte, konnte sie die mit dem Koalitionspartner verabredete Unterstützung unmittelbar vor der geplanten Wahl nicht mehr garantieren. Auch die Wahlen des Unionskandidaten Günter Spinner und der zweiten SPD-Kandidatin Ann-Katrin Kaufhold wurden von der Tagesordnung genommen. Wie die Koalitionspartner CDU, CSU und SPD das Dilemma auflösen würden, war damit völlig unklar. Die Unionspolitiker hielten an ihrer Kritik fest, die SPD an ihrer Kandidatin.
Lesen Sie auch: Umfrage: Mehrheit gegen Rückzug von Brosius-Gersdorf
In einer früheren schriftlichen Stellungnahme hatte die Juristin die gegen sie erhobenen Vorwürfe deutlich zurückgewiesen. „Die Bezeichnung meiner Person als ultralinks oder linksradikal ist diffamierend und realitätsfern“, heißt es darin. In manchen Medien sei zudem falsch über ihre Position zum Schwangerschaftsabbruch berichtet worden. Im ZDF betonte Brosius-Gersdorf: „Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft.“ Dies könne jeder nachlesen.
Brosius-Gersdorf berichtet von Drohungen
Brosius-Gersdorf hatte auch berichtet, sie habe Drohungen und verdächtige Poststücke erhalten. „Ich musste vorsorglich meine Mitarbeitenden bitten, nicht mehr am Lehrstuhl zu arbeiten“, sagte die Juristin im ZDF. Die Berichterstattung über die Verfassungsrichterwahl und ihre Person sei „nicht spurlos an mir vorbeigegangen, nicht an mir, nicht an meinem Mann, an meiner Familie, meinem gesamten sozialen Umfeld.“
Für die schwarz-rote Koalition war die geplatzte Richterwahl eine Schlappe. „Die Dimension der grundlegenden und inhaltlich fundierten Bedenken gegen eine der Kandidatinnen haben wir unterschätzt“, hatte Unionsfraktionschef Jens Spahn (CDU) in einem Brief an seine Fraktion geschrieben. Er gab aber auch der SPD eine Mitverantwortung für die gescheiterte Suche nach einem Kompromiss.
Klingbeil (SPD): Union muss Fall Brosius-Gersdorf aufarbeiten
Vizekanzler Lars Klingbeil sieht die Verantwortung bei der Union, wie er nach dem Bekanntwerden des Rückzugs am Donnerstag sagte. „Die SPD hat immer zu dieser exzellenten Kandidatin gestanden. Diejenigen, die am Ende nicht zu ihrem Wort innerhalb der Koalition gestanden haben, müssen dringend aufarbeiten, was da passiert ist“, forderte der SPD-Chef. „So ein Vorfall darf sich nicht wiederholen.“ Was Brosius-Gersdorf in den vergangenen Wochen an Anfeindungen habe erleben müssen, sei nicht tragbar, betonte Klingbeil. Er bedauerte den Rückzug der Richterin, die persönliche Entscheidung respektiere er aber.
Spahn (CDU) will gemeinsame Lösung finden
Unionsfraktionschef Jens Spahn will nach dem Rückzug Brosius-Gersdorfs mit der SPD gemeinsame Lösungen finden. Spahn sagte der „Deutschen Presse-Agentur“: „Der Entscheidung von Frau Prof. Brosius-Gersdorf gilt größter Respekt. Für ihre juristische Expertise und persönliche Integrität genießt sie zurecht hohe Anerkennung. Jenseits der sachlichen Auseinandersetzung gab es herabsetzende und beleidigende Kritik, die Frau Prof. Brosius- Gersdorf in den letzten Wochen erdulden musste. Diese verurteilen wir ausdrücklich. Das habe ich ihr auch persönlich im Namen der Unionsfraktion gesagt.“
Spahn sagte weiter: „Ich bedauere, dass diese Lage auch durch die zu späte Ansprache unserer inhaltlichen Bedenken entstehen konnte. Nun werden wir mit der nötigen Ruhe und Sorgfalt eine gemeinsame Lösung mit unserem Koalitionspartner finden.“
Grüne sprechen von „ungeheuerlichem Vorgang“
Die Grünen-Fraktion reagierte entgeistert auf den Rückzug Brosius-Gersdorfs. Die beiden Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann zweifelten die Handlungsfähigkeit der schwarz-roten Koalition an. Brosius-Gersdorf sei eine „exzellente, hoch qualifizierte Juristin“, betonten sie. „Es bleibt ein ungeheuerlicher Vorgang, den es so noch nicht gegeben hat“, erklärten die beiden Grünen-Politikerinnen. Das Gesamtpaket mit drei Richtern sei ein Vorschlag der Koalition gewesen. „Es ist absolut inakzeptabel, dass die CDU-Fraktion ihre Unterstützung zurückgezogen hat und eine Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf jetzt kategorisch ablehnt.“
Die Verantwortung dafür trage Unionsfraktionschef Jens Spahn, der sein Wort gegeben habe und nicht mehr halten könne. Auch der SPD machten Dröge und Haßelmann Vorwürfe. „Wir fragen uns, wieso die SPD offenbar bereit war, ein Nein der CDU zu akzeptieren. Dieses Verhalten ist schwach.“