
Es ist bemerkenswert, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff der „Zeitenwende“ als Wort des Jahres wieder hervorkramen muss. Bislang nämlich hat es der Kanzler mit der Vokabel aus seiner Regierungserklärung zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zwar sogar in die Leitmedien der USA geschafft. In Deutschland indes scheint die Dimension dieser historischen Lage noch nicht erkannt zu sein. Die Weihnachtslichterketten in den Vorgärten geben in Zeiten der Energie-Knappheit und steigender Stromkosten Zeugnis davon.
Es gilt leider auch für die Wirtschaft. Trotz klarer Analysen zu notwendigen Veränderungen trauern viele Unternehmensvorstände noch den alten, vermeintlich goldenen Zeiten hinterher, in denen nationale Wirtschaftsreformen ihnen goldenen Boden bereiteten. Das aber wird nicht reichen, die durch Putins verbrecherischen Krieg heraufbeschworene Krise zu überstehen. Die Bedrohung der Globalisierung, die gerade für die deutsche Exportnation von herausragender Bedeutung ist, fordert völlig neue Antworten. Zeitenwende eben. Ein paar - auch schmerzhafte - Schritte zur Bewältigung dieser Krise hat die Politik auf den Weg gebracht. Nicht alles davon wird funktionieren und von Bestand sein. Manches wird korrigiert werden müssen.
Aber vor allem wird das Vertrauen auf neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte nicht mehr reichen. Die romantisierende Träumerei aus Zeiten, in denen Deutschland noch Fußball-Weltmeister werden konnte, trägt keine Lösungskonzepte für morgen. Die Klage über tatsächliche oder vermeintliche Fehlentscheidungen der Politik trägt noch keine eigene Antwort eines verantwortlichen, innovativen Managements. Dort müsste darüber nachgedacht werden, wie das deutsche, auf Export orientierte Geschäftsmodell komplett umgebaut werden kann. Jammern über deutsche Bürokratie ist zu wenig.
Vielmehr stellt sich die Frage: Was tun, wenn es nicht mehr ausreicht, die Wertschöpfungsketten ausschließlich auf Effizienz auszurichten, wenn die Weltordnung – weil gespalten – nicht mehr auf Globalisierung ruhen kann? „Freiheit ist wichtiger als Freihandel, der Schutz unserer Werte wichtiger als Profit“, sagte jüngst NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. John F. Kennedy formulierte einst: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.“ Der amtierende US-Präsident Joe Biden will wieder mehr in den USA produzieren, seine Finanzministerin gar Handel nur noch mit befreundeten Staaten treiben.
Zeitenwende halt. Das ist nicht nur das Wort des Jahres. Sie ist ein großer Auftrag. Nicht nur für die Politik.