Paderborns Zerstörung vor 80 Jahren: Sechs Wochen alter Junge überlebt Bombenangriff

Paderborn. Kürzlich hat Uwe Panten seinen 80. Geburtstag gefeiert. Dass er dieses konnte, verdankte er dem Glück, die Bombardierung Paderborns am 27. März 1945 – hierbei starben dabei 350 Menschen, 85 Prozent der Stadt wurden zerstört – überlebt zu haben. Die Geschichte seiner Rettung hatte ihm sein Großvater immer wieder erzählt. Jetzt hat sie der im niedersächsischen Kirchlinteln lebende Panten aufgeschrieben. Die &bdquo;NW“ veröffentlicht seine Geschichte als Gastbeitrag. Ergänzt worden ist der Text von seinem Cousin Rainer Decker anhand von Erzählungen seiner Eltern. Der Paderborner Decker ist als Regionalhistoriker bekannt und hat sich vor allem als Experte für das Thema Hexenverfolgung einen Namen gemacht. 2016 wurde er mit der Paderborner Kulturnadel ausgezeichnet. &bdquo;Im größten Zimmer unseres Hauses hängt an exponierter Stelle mit einem einfachen, aber breiten hölzernen Rahmen ein Bild meines Großvaters väterlicherseits, das ihn in der Uniform eines 8. Husaren hoch zu Pferde irgendwo im Kriegseinsatz 1914/18 in Europa zeigt. Das Bild ist kein Gemälde, sondern eine kolorierte Fotografie, auf der er vom Pferd herab mit offenem Blick den Betrachter anschaut. Fast immer, wenn ich dieses Bild, als es noch bei meinen Großeltern hing, betrachtet oder besser: bestaunt habe, hat mein Großvater mir die Geschichte erzählt, wie er mich nach dem Bombenangriff auf Paderborn am 27. März 1945, sechs Wochen nachdem ich geboren war, aus den Trümmern des Hauses meiner Großeltern mütterlicherseits (Kölling) in der Paderstraße gerettet hat. Die Geschichte wird an Kinder und Enkelkinder weiter erzählt Der Beschreibung der Geschehnisse habe ich immer, auch nach mehrfachen Wiederholungen, gespannt zugehört und bin meinem Großvater für sein beherztes und zielgerichtetes Handeln bis heute dankbar. Nicht zu oft, aber immer wieder nutze ich sich bietende Gelegenheiten, meinen eigenen Kindern und Enkelkindern vor diesem Bild das Handeln meines Großvaters zu beschreiben und zu erläutern. Diese Momente sind für mich selbst, auch wenn ich mich dabei wiederhole, Augenblicke, in denen ich mit und in tiefer Dankbarkeit über meinen Großvater spreche, etwas, was ich als Acht- oder Zehnjähriger noch nicht konnte. Seine Geschichte, wie sie mir in Erinnerung blieb und von anderen Verwandten ein wenig ergänzt wurde, geht so: Ich bin am 13. Februar 1945 in Paderborn geboren, während mein Vater als Soldat in Süddeutschland war. Meine Mutter Inge Panten (geborene Kölling) wohnte mit meiner dreijährigen Schwester im Haus ihrer Eltern an der Pader. Weil ein neuer Großangriff auf Paderborn befürchtet wurde, fanden die Großeltern zusammen mit meiner Schwester in einem Dorf in der Nähe (Henglarn) bei einem Bauern Zuflucht, da dort nach menschlichem Ermessen keine Luftangriffe zuerwarten waren. Meine 26-jährige Mutter wollte mit ihrem Säugling auf einem Möbelwagen nachkommen, der schon zum Abholen unterwegs war. Außerdem hielten sich am Nachmittag des 27. März in dem Haus auf: die Schwester meiner Mutter, ihr Ehemann, eine Hausangestellte und mein Opa väterlicherseits. Dieser hatte in Luftschutzkellern die Angewohnheit, die dort in der Regel bereitstehenden Sitzgelegenheiten nicht zu nutzen, sondern stehend die Angriffswellen auszuhalten. Diesmal sollte seine Angewohnheit für ihn zum Lebensretter werden. &bdquo;Meine Mutter hat sich über den Kinderwagen geworfen“ Als er wieder zu sich kam, war über ihm keine Kellerdecke, sondern der freie Himmel! Das ganze Haus fehlte, es war wie von einer mächtigen Hand, hier war es wohl eine Luftmine, hinweg gefegt! Neben ihm hatte sich meine Mutter über den quer vor ihr stehenden Kinderwagen, in dem ich lag, geworfen. Sie und der Kinderwagen waren mit Schutt bedeckt. Vor dem Herunterbrechen der Decke hat sie mich mit ihrem Körper geschützt, aber selbst nicht den herabfallenden Steinen Widerstand bieten können. Sie war tot! Ebenso die Hausangestellte Lina Grasshoff. Mein Onkel war schwer verletzt (Beinbruch). Der Großvater begann nun, so gut er konnte, mit bloßen Händen den Körper meiner Mutter etwas zur Seite zu bewegen, um an den ebenfalls mit Schutt bedeckten Körper seines sechs Wochen alten Enkels zu gelangen. Irgendwann und irgendwie gelang ihm dies. Als er dann den kleinen Jungen unter den Armen ergriff, um ihn aus den mit Steinen und Schutt bedeckten Kinderwagen zu ziehen, gelang ihm dies mit Mühe, auch wenn das ganze Windelpaket und die Strampelhose wegen des hohen Drucks durch die Schuttlast im Wagen verblieben. Tiefflieger greifen die Ruinenstadt an Nachdem er mich mit einem Ruck aus dem Wagen herausgehoben hatte und ich den Himmel erblickte, griffen, so erzählte er es, Tiefflieger die Ruinenstadt an. Großvater wurde durch den Beschuss mit Bordwaffen im Oberarm getroffen. Trotz der Verletzung machte er sich, mit mir auf einem Arm, zum benachbarten St. Johannisstift auf, aber einen Weg oder eine Straße dorthin gab es nicht mehr! Überall nur noch Ruinen, Schutt und schreiende Menschen, die planlos hin und herliefen, ohne an ein Ziel zu gelangen. Am Krankenhaus angekommen, war dies zwar nur zu Teilen zerstört, die Menge der dort angelieferten Verletzten allein sorgte aber für ein unbeschreibliches Chaos. Schließlich gelang es meinem Großvater, mich an eine Krankenschwester zu übergeben, die versprach, für das Mögliche und Machbare zu sorgen. Meine Tante brachte ihren Mann, nachdem Soldaten die Verschütteten nach einem Hinweis von Großvater aus dem Keller geholt hatten, ebenfalls zunächst zum Johannisstift und von dort auf einem Handwagen nach Neuhaus in das St.-Andreas-Krankenhaus. Mutter wurde am 19. April von Vikar Hermann Bieker (Herz-Jesu-Kirche) auf dem Westfriedhof beigesetzt. Bieker beschrieb in seinem Buch &bdquo;Die brennende Stadt“ die grauenvolle Arbeit, wie er und seine Helfer im Westteil der Stadt die Toten bargen und identifizierten. Der Großvater sucht nach seiner Wohnung und seiner Frau Für meinen Großvater begann am Abend des 27. März in der Ruinenstadt die Suche nach der eigenen Wohnung, die es aber nicht mehr gab, und die Suche nach der eigenen Frau, von der er nicht wusste, ob sie überhaupt überlebt hatte. Das war eine kräftezehrende und von vielen Horrorszenarien begleitete und belastete Suche, die aber letztlich ein glückliches Ende fand. Meine Großmutter in Paderborn (Panten) hatte überlebt, aber die gemeinsame Wohnung war total zerstört und nicht mehr bewohnbar. Damit begann ein wochenlanges Leben in irgendeinem Kellerloch, das wenigstens etwas Schutz gegen die Unbilden des Wetters bot und mit einigen wenigen noch nutzbaren Gegenständen aus der zerstörten Wohnung bestückt wurde. Ein Leben, das dem Randbereich dessen zugeordnet werden kann, was man als menschenwürdig/-erträglich versteht. Über diese Einschränkungen hinaus hatten meine Großeltern aber eine noch viel größere Sorge, nämlich die Frage nach meinem Verbleib und nach meinem Wohlergehen. Im Krankenhaus fanden sich keine schriftlichen Unterlagen über meinen Verbleib. Es stellte sich aber heraus, auch mithilfe meiner Tante, dass ich wegen der Vielzahl der Einlieferungen am Tag des Angriffs und der damit verbundenen kompletten Nutzung der Krankenhausbetten an eine Frau weitergegeben wurde, die sich bereit erklärt hatte, für mich zu sorgen. Der Name der Frau war nicht bekannt, ebenfalls nicht ihr genauer Aufenthaltsort. &bdquo;Es war ein großes Glück, dass ich dieses Leben leben durfte“ Meiner Großmutter blieb also nichts anderes übrig, von nun an in umliegende Ortschaften zu wandern, an den Wohnhäusern zu klopfen und zu fragen, ob man über meinen Verbleib Bescheid wisse. Mehrere Wochen lang blieben diese beschwerlichen Wanderungen ohne ein erhofftes Ergebnis. Aber dann gab es plötzlich und rein zufällig einenHinweis, dass in einem Dorf kurz vor Detmold eine Frau ein Kleinkind zur Pflege aufgenommen habe. Tatsächlich war ich dieses Baby. Überglücklich brachte mich meine Großmutter nach Hause, um dann festzustellen, dass jetzt eine ganze Reihe von neuen Problemen auf sie wartete. Mein Rücken war offensichtlich durch langes Liegen vollständig mit Blasen übersät. Pflegemittel waren nicht zu bekommen, wo auch in der fast völlig zerstörten Stadt. Klares, sauberes Wasser war schon ein Problem, warmes Wasser erst recht. Milch war in der Stadt so gut wie nicht verfügbar, also machte mein Großvater sich täglich auf in die umliegenden Ortschaften, um dort etwas Milch für mich zu erbetteln. Wenn er von diesen &bdquo;Touren“ einen Viertelliter Milch mitbrachte, war er froh. Heute, nachdem ich vor wenigen Monaten meinen 80. Geburtstag bei zufriedenstellender Gesundheit feiern durfte, ich auf ein buntes und teilweise herausforderndes Berufsleben zurückblicken kann und selbst Vater von drei Töchtern und Großvater von zehn Enkeln bin, denke ich immer mal wieder an die Zeit meiner Jugend zurück, die ich hier skizzenhaft beschrieben habe. Und ich bin meinen Großeltern immer noch dankbar für die Art und die Hingabe, mit der sie mich umsorgt haben. Es war ein großes Glück, dass ich dieses Leben leben durfte.“

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