Trauma-Expertin: Tornado löste bei vielen einen Schockzustand aus

Frau Norra, was ist für Sie als Therapeutin das Besondere an der Situation? Christine Norra: Das Ereignis hat Paderborn zufällig und ohne Vorwarnung getroffen. Es kam von jetzt auf gleich. Es ist keine Naturkatastrophe mit einem Vorlauf, außer dass wir wissen, dass es einen Klimawandel gibt, der zu solchen Ereignissen führen kann. Als solches war dieser Tornado hier unvorhersehbar, ist unfassbar und sorgt eben auch mit seinen hohen Sach- und auch Personenschäden für einen gewissen Schockzustand. Gerade dies geistig einzuordnen und zu verstehen, war zunächst für die direkt, aber auch alle mittelbar betroffenen Menschen schwierig, ist aber wichtig. Das ist gleichzeitig aber auch die Grundlage dafür, weil eine solche Naturkatastrophe an sich ein traumatisch wirkendes Ereignis sein kann, damit es im Weiteren gut verarbeitet werden kann. Auch weil klar ist: Es ist kurzzeitig und dann vorbei. Es deutet sich erstmal nicht an, dass es genau am selben Ort weitere Tornados geben wird. Was läuft in den Menschen in einer solchen Situation ab? Es wird eine akute Stresssituation ausgelöst, aber noch keine Belastungsstörung. Die würden wir diagnostizieren, wenn eine Reaktion auf eine solche unerwartete und außergewöhnliche existenzielle Belastung über viele Tage anhält. Die akute Belastungs- oder Stressreaktion lässt sich mit einem Schock oder auch einem Nervenzusammenbruch beschreiben, die sich innerhalb von wenigen Stunden bis Tagen wieder zurückbildet. Sollten Menschen längerfristige Erinnerungen und sogar Flashbacks’, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen und andere vegetative Stressreaktionen entwickeln, dann würden wir es als akute Belastungsstörung einordnen: Dies würde auch eine Hilfe, Beratung durch die Telefonseelsorge oder den Hausarzt bis letztlich zur Behandlung durch einen niedergelassenen Psychiater oder Psychotherapeuten erfordern. Gibt es beim Tornado Faktoren, die eine Verarbeitung erleichtern? Aufgrund der Kürze des Ereignisses war es gut einzuordnen und erkennbar. Unmittelbar danach hat es glücklicherweise jede Form der Hilfestellung gegeben. In der Stadt selbst durch die Feuerwehr, durch den Rettungsdienst, durch ganz unproblematische Nachbarschaftshilfe und andere Notfallhelfende, also auch sozialen Support und Solidarität. Das ist positiv verstärkend, um dieses Erlebnis zu verarbeiten. Durch das Aufräumen und die weiteren Reparaturarbeiten entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, diese Krise gut bewältigen zu können. Und man kann es als Chance sehen, etwa um das Paderquellgebiet noch einmal neu auszurichten. Nicht jeder Mensch hat das nötige helfende Umfeld. Für diejenigen, die im eigenen Umfeld nicht darüber sprechen können, aber noch sehr belastet sind, wäre es schon sinnvoll, sich Hilfe zu suchen. Es gibt auch Menschen, die im Vorfeld schon belastet oder vulnerabel gewesen sind oder möglicherweise frühere Erinnerungen an ähnliche existenzielle Ereignisse bis hin zu Naturkatastrophen oder gar Kriegsereignissen haben, die dadurch wiedererinnert oder reinszeniert werden. Es sieht an einigen Stellen ja tatsächlich so aus, als wenn eine Bombe eingeschlagen hätte. Gibt es etwas, dass Betroffene in keinem Fall machen sollten? Ich glaube, man kann jetzt nicht ganz viel falsch machen. Es kam und kommt zunächst darauf an, sich einen Überblick zu verschaffen und entweder selber oder mit anderen zusammen Sicherheit herzustellen und sich durch Gespräche und gemeinsames Handeln zu beruhigen und zu entlasten: So lässt sich die Kontrolle über die Situation erlangen, um damit weiter gut klar zu kommen. Es geht letztendlich um eine gute Balance: zwischen dem Ereignis und es zu verstehen, aber gleichzeitig im eigenen Alltag mit einer gewissen Routine weitermachen zu können und nicht in eine hilflose oder ohnmächtige Lage zu geraten. Ich kann mir aber auch einige Betroffene vorstellen, die einen großen Sachschaden erlitten haben und für eine gewisse Zeit auch gar nicht am selben Ort wohnen oder arbeiten können. Sie wie auch einige der körperlich Verletzten benötigen möglicherweise noch einmal eine besondere Fürsorge. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass Paderborn zeitnah erneut von einem Tornado heimgesucht wird: Manche Menschen werden bei der nächsten Sturmwarnung denken: Das möchte ich nicht noch einmal erleben. Ich denke schon, dass es eine gewisse Verunsicherung gibt. Wichtig ist deshalb die Aufklärung darüber, wie ein derartiger Tornado in einer besonderen klimatischen Situation in einer Innenstadt zustande kommt - das ist ja nicht untypisch. Sich solche Zusammenhänge klar zu machen, ist wichtig, und vor allem auch gemeinsam präventiv zu agieren und Innenstädte beispielsweise mehr zu begrünen und die Bildung heißer Aufwinde zu vermeiden. Wichtig ist auch Prävention im Sinne verbesserter Vorwarnungen. Ein kurzfristiger Sirenenalarm hätte vielleicht geholfen. Den hätte es ja eine Minute nach dem Beginn des Tornados geben können. Hat es aber leider nicht. Allerdings wird jetzt über effektivere und bessere Warnsysteme nachgedacht. Verbesserte oder individualisierte Alarmierungen und KAT-Warn-Meldungen für die Bevölkerung könnten, technisch gesehen, ja mittlerweile deutlich mehr eingesetzt werden. Diese Überlegungen sollte man weiterverfolgen und insgesamt einen besseren Bevölkerungs- und Katastrophenschutz schaffen. Darüber muss man im Vorfeld gut aufklären, so dass im Fall einer gesendeten oder akustischen Warnung alle die Möglichkeit haben, gut darauf reagieren zu können - und wie in diesem Fall etwa Gebäude erst eine halbe Stunde später verlassen. Über derlei Maßnahmen könnte man die Bevölkerung psychisch stärken und ihnen gewissermaßen ein Instrument in die Hand geben: Das sichert zwar nicht 100-prozentig, bedeutet aber für alle eine deutlich höhere Sicherheit. Der Tornado hat vielerorts dazu geführt, dass sich Menschen ein Bild von den Zerstörungen gemacht haben. Die Rede ist von Katastrophentouristen und Schaulustigen, die zum Teil gar die Arbeit der Rettungskräfte behindert haben. Doch geht es für viele Menschen nicht auch darum, das Geschehene durch den Blick auf die Zerstörungen überhaupt begreifen zu können? Es gibt sicherlich die eine und die andere solche Gruppe. Und an so einem Ereignis wie einer unvorhersehbaren Naturkatastrophe geht es auch erst einmal darum, das Erlebte einzuordnen: es zu sehen, zu verstehen. Wir kennen psychische Zustände des Unfassbaren in der Psychologie beispielsweise als sogenannte Derealisation: Die Umgebung scheint unwirklich, obwohl es hier ja real geschehen war. Das dauert einfach einen Moment und ist für viele notwendig notwendig in diesen ersten Stunden oder Tagen nach dem Ereignis, um das Geschehene zu begreifen. Das Sehen der Schäden gehört also dazu? Es gehört dazu und wir leben ja in einer sehr visuell geprägten Gesellschaft. Ob nun wirklich jeder mit seinem Handy da selbst hingehen muss, Fotos, Selfies macht oder Videos dreht, die im Internet hochgeladen werden? Das kann schnell ins Exzessive hineingleiten und sollte vor allem nicht dazu führen, dass Rettungskräfte und Aufräumtrupps behindert werden. Beziehungsweise, dass man in der Situation gar nicht selber fragt: Was kann ich tun? Wie oder wen kann ich hier unterstützen und helfen? Aber auch diese Art und Weise, es als Beobachter oder über das Handy anzusehen, um es zu verstehen und auch anderen weiter mitzuteilen, ist als eine Form der kollektiven Verarbeitung, ja der kollektiven Traumaarbeit verständlich. Sie waren während des Tornados mit dem Auto unterwegs zum Bahnhof. Wie haben Sie ihn erlebt? Ich bin von der LWL-Klinik Richtung Maspernplatz gefahren, weil ich zum Bahnhof musste, als der massive, ja autowaschanlagenartige Regen anfing. Glücklicherweise fielen noch keine Äste oder Ähnliches aufs Auto. Ich kam aber gar nicht mehr weiter, die Ringstraße selbst war wegen der umgestürzten Alleebäume gesperrt. Auch über andere Straßen ging nichts mehr. Daher habe ich meine Beifahrerin dann am Nordbahnhof abgesetzt, bin von da aus letztlich beim Gewerbegebiet vorbeigefahren und habe unvorbereitet die bombenartigen Zustände gesehen. Da hat mich persönlich sehr schockiert. Erst sehr viel später habe ich begriffen, wie viel Glück wir hatten, dass wir nicht ein, zwei Minuten später losgefahren sind. Dann hätte es anders ausgesehen.

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