Hilfe in den Trümmern: Paderborn startet das große Aufräumen nach dem Tornado

Paderborn. Aus der Damaschkestraße nach Dangast an die Nordsee: Dieses Ziel hatten Marco Grimm und Anne Schmidt für ihre erste Tour im Campingmobil. Am Mittwoch sollte der Test für weitere Touren starten. Doch ihr Camper hat es letztlich nur auf etwa 50 Meter gebracht. Vom Tornado in die Luft gewirbelt, hat er alle neben ihm stehenden Autos touchiert und ist dann unsanft gelandet. "Der hat sich selbstständig gemacht", sagt Marco Grimm. Er und seine Frau hatten ihr neues Haus im Juni bezogen. Nach nicht einmal einem Jahr ist ihr Dach jetzt löchrig, im Wohnzimmer liegt ein Scherbenhaufen. Alle Fenster sind kaputt. Zugleich ist Anne Schmidt gerührt über die Hilfsbereitschaft. "Ganz viele Leute haben sich angeboten, anzupacken." In Blicknähe steht das Haus von Christian Weidlich. Ihm habe der Tornado das komplette Dach regelrecht angehoben, dann sei es wieder herunter gefallen und die rechte Hälfte etwas herunter gerutscht. Dazu zeigt er auf einen gut zu sehenden Spalt, der sich durch den First zieht. Seine Mutter Angelika habe den Wirbel richtig kommen sehen. "Es war alles ganz weiß", sagt sie und findet nur ein Wort: "Weltuntergangsstimmung!" Nach wenigen Sekunden herrschte draußen "Totenstille, kein Vogel, nix war zu hören". Da unklar ist, ob sie in dem Haus überhaupt noch wohnen können, sind Christian Weidlich und seine Mutter erst einmal im Hotel untergekommen. Vom Westen her hat der Tornado den Menschen im Riemeke gezeigt, dass wenige Sekunden ausreichen, um enorme Verwüstungen zu erreichen. Überall liegen große Bäume am Boden; Äste, die zu fallen drohen, werden durch Fachleute abgesägt. Etliche Autos wurden zum Ziel von teils ganzen Stämmen, herum gewirbelten Dachpfannen oder anderem Zeugs. Ob das Technische Rathaus in der Pontanusstraße oder zig Wohnhäuser an Riemekestraße und Nebenstraßen: Die Spur des Tornados ist eine des Grauens. Eine Penthouse-Wohnung ist fast komplett weg Auf 150.000 Euro schätzt Stefan Robrecht den Schaden an einem Drei-Parteien-Haus in der Friedrich-Ebert-Straße. Wie der Chef der gleichnamigen Immobilienverwaltung meint, seien "Minimum 30 Objekte" von der Firma betroffen. Aus dem Loch, das Emmelinde in die Pfannendecke gerissen hat, kann er auf die Häuser ringsherum schauen. Einige davon haben kaum noch etwas, das sich als Dach bezeichnen lässt. Mit am heftigsten erwischt hat es ein Haus an der Riemekestraße, bei dem die Penthouse-Wohnung fast ganz fehlt. Sie wurde einfach fortgerissen. Auf einer Straße sitzen freiwillige Helfer einer Firma, die gar nicht genannt werden möchte. Einer von ihnen ist Andreas Sommer. "Das, was gemacht werden kann, das machen wir auch." Er selbst hat im vergangenen Sommer auch im Ahrtal geholfen. Da sei es für selbstverständlich, auch hier zu helfen. In der Schulstraße sei ein anderes Unternehmen unterwegs. Die machten das genauso. Überall werden Dächer geflickt Wohin das Auge fällt, stehen Dachdecker-Firmen oder Feuerwehr mit Leitern und Kränen. Überall werden die Löcher notdürftig hergerichtet und mit Folie zugemacht. Wann die endgültige Dachreparatur kommt? Genau sagen kann es keiner. Die Handwerker hatten schon vorher volle Auftragsbücher. Hinzu kommt Materialknappheit, unter anderem bei Pfannen. "Wenn Sie an Dachpfannen kommen, drei bis vier Monate", sagt Bauunternehmer Hubert Köthenbürger aus Delbrück, der gerade in der Imadstraße anpackt. "Das wird alles erstmal provisorisch geflickt." Ganz heftig erwischt hat es das geliebte Herz der Menschen in Paderborn: das Paderquellgebiet, kurz PQ. "Wir haben Glück gehabt, es hat nur ein paar Pfannen erwischt", sagt Jens Gerold, der mit Jutta Benteler am Damm wohnt. Das werde wieder. "Wir sind nur traurig wegen unseres Vorgartens", sagt Benteler. Also dem PQ. "Jetzt machen wir es griechisch und sammeln alles zusammen" Auch die Gastronomie rings herum hat große Schäden. Bei Bärlin Curry hat die mächtige Windhose die Fassade und den Barbereich ziemlich ramponiert, auch hier hat es Autos erwischt, sagte Geschäftsführerin Olga Seller. Mitten im Gespräch fragt eine Frau sie: "Brauchen Sie Hilfe?" Vanessa Labancz ist extra mit dem Rad und in Arbeitskleidung aus Dörenhagen gekommen. Sie habe einen Termin abgesagt und wollte einfach etwas machen. Heike Bergmann, Inhaberin des Jassas in der Paderschänke, hat keine heilen Tische mehr. Und das in der Außensaison. "Jetzt machen wir es griechisch und sammeln alles zusammen", sagt sie. Mitarbeiter würden von zu Hause mitbringen, was sie übrig haben, daran wird demnächst gegessen. "Das ist so schlimm" Innerhalb weniger Sekunden hat auch die Kleine Galerie ihre grüne Außenterrasse verloren. Glücklicherweise habe es vorher geregnet, so dass keine Gäste draußen waren, sagt Jasmina Busacca. Alles wurde unter Bäumen begraben, die seit Ewigkeiten an der Bachstraße standen. "Das ist so schlimm", sagt sie mit Blick auf das am Boden liegende PQ, das gerade so schön gewesen sei. "Wir haben meiner Meinung nach jedoch keine Priorität, da hat es viele andere heftiger getroffen." Auch der Geißelsche Garten an der Stadtbibliothek liegt in weiten Teilen nieder. Mächtig durcheinander gewirbelt hat Emmelinde auch die Freilichtbühne des Theaters vor der Bibliothek. Diese sieht so aus wie die Gefühlswelt der Figuren in "Rose und Regen, Schwert und Wunde", das am kommenden Wochenende Premiere haben sollte. Brötchen und Getränke für die Helfer Auf dem Paderborner Schützenplatz versorgen die Schützen derzeit alle Helfenden. "Das ist Ehrensache für uns", sagt PBSV-Oberst Thomas Spieker. Der Verein hatte unter anderem auch während der großen Evakuierungsaktion 2018 seinen Schützenplatz für die Paderborner geöffnet. Als Einzelcaterin ist Anna Peterhanwahr unterwegs und fragt überall Helfer, ob sie belegte Brötchen oder etwas zu trinken möchten. Sie hat an der Pontanusstraße angefangen und zieht mit einem kleinen Anhänger quer durch die Stadt entlang der Schneise der Zerstörung. So an der Dielenpader und in der Penzlinger Straße, wo es ebenfalls darum geht, lose Dachpfannen, die herunterfallen könnten, vom Dach zu holen und die Lücken notdürftig zu flicken. "Unfassbar", meint Lars Hesse, der hier wohnt. Der Tornado sei so schnell gekommen, dass sein Kumpel Elmar Eberhardt kaum Zeit hatte, ins Haus zu kommen. Durch Unterdruck hätte sich die Terrassentür kaum öffnen lassen. Ein paar Meter weiter hat Philipp Michaelis seine Freunde der Heide-Kompanie als Helfer, um im Haus seines Opas etwas Ordnung zu schaffen. "Wir waren noch nicht einmal gefragt, da waren wir schon da", sagt einer der Schützen-Kumpel. "Papa, Dach!" Auch über den Dörener Weg ist der Tornado hinweg gezogen. Schutt und Trümmer überall. Aber auch hier ist niemand allein. "Was die sich hier gegenseitig geholfen haben, das habe ich noch nie erlebt", sagt Stefan Krämer. Hilfe aus der Nachbarschaft, aber auch von Fremden. So seien am Morgen Freiwillige aus Schwaney dagewesen und hätten angepackt. Er bekomme regelrecht Gänsehaut. Selbst hatte er mit seinem zweijährigen Sohn Linus noch kurz vor dem Augenblick des Schreckens am Fenster gestanden. Als der Wirbel sichtbar war, habe er sich mit ihm in die hinterste Ecke verzogen. "Das ging alles so schnell. Nach 30 Sekunden war alles vorbei." Sein Sohn hat die Ereignisse mit in den Schlaf genommen und gesprochen: "Papa, Dach!" Die Kinder der Kita Klingernstraße, eine Elterninitiative, werden für die nächsten Tage in die Kämper-Baude auf dem Schützenplatz ziehen. "Die Räume kann man nicht mehr nutzen", sagen Brigitte Zacharias und Maike Lorz. Das Dach ist kaputt, durch Scheiben wurden Gegenstände in das Gebäude geschleudert. Eine bisher im Garten stehende Hütte ist zerstört. Auch hier war die Hilfsbereitschaft groß. Auf einen Aufruf in sozialen Netzwerken kamen am Morgen 60 bis 70 Helfer, sagen die Nachbarn des Unternehmens Mettenmeier. Auf 1,5 bis 2 Milllionen Euro schätzt Ulrich Mettenmeier die Schäden am Firmengebäude. "Die obere Etage muss komplett erneuert werden." Durch Aufnahmen von Videokameras wisse er, dass für die Zerstörung drei Sekunden gereicht haben. "Wir sind alle noch geschockt" Im Gewerbegebiet Auf dem Dören ist unter anderem das Möbelgeschäft Multipolster völlig zerstört: Von Schaufenstern ist hier kaum noch etwas zu sehen. Heftig erwischt hat es den Baumaschinenvermieter Moog. Ein Dach ist komplett umgeklappt. "Das ist schon ziemlich bitter und ehrlich gesagt, sind wir alle noch geschockt", sagt Inhaberin Suleyken Canney. Zum Glück waren keine Mitarbeiter mehr da, der letzte hatte kurz nach fünf abgeschlossen. Canney hofft, "dass wir das Gebäude weiter nutzen und instandsetzen können". Durch ihre Mitarbeiter, die handwerklich etwas können, und die Maschinen habe eine Menge Selbsthilfe geleistet werden können. Völlig zerstört scheint auch die große Gärtnerei Blumen Rixius. Ungefähr hier endet die Spur gut vier Kilometer lange Spur des Tornados. Eine Spur, die Paderborn und die hier lebenden Menschen nachhaltig in Erinnerung behalten werden.

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