Grosches Gedanken

Erwin Grosches Gedanken: Über unser ausgleichendes Wesen

Der Kabarettist, Autor und Kleinkünstler schreibt in seiner Kolumne über das ausgleichende Wesen der Paderbornerinnen und Paderborner.

Macht sich Gedanken: Erwin Grosche.  | © Harald Morsch

19.12.2020 | 19.12.2020, 18:09

Der Paderborner ist bekannt für sein ausgleichendes Wesen. Er kennt die zwei Seiten der Medaille und dass man nicht mit Wasser kochen kann, wenn der Herd aus ist.

Wenn ein Paderborner über warme Temperaturen im Dezember Freude äußert, dämpft ein anderer sofort die Begeisterung: „Aber Schnee ist auch schön." Begrüßt ein Paderborner einen Nachbarn mit den Worten: „Es ist schon sinnvoll eine Maske zu tragen", hält der andere dagegen: „Aber die Lippenstiftindustrie hat Umsatzeinbußen."

Der kluge Paderborner weigert sich den Eindruck des vollkommenen Glücks zu hinterlassen, um das Schicksal nicht zu ermutigen, für einen Ausgleich zu sorgen. „Was wohnst du in einer wunderschönen Stadt!", sagte mir mal ein Freund. „Schon, aber wir bekommen bald ein hässliches Stadthaus", konterte ich. So wird der gerechte Gott besänftigt. So hinterlässt man ein Gefühl der Ausgewogenheit.

Eine Er-win-Situation

Ich habe jetzt einen Mann in der Südstadt gelobt, weil er so eine junge und schöne Frau hat, aber da stapelte er gleich tief und relativierte: „Dafür besucht mich jedes Wochenende meine Schwiegermutter." Verstehen Sie, sonst denkt das Glück noch, der wurde aber reich beschenkt, der hat eine so junge und schöne Frau, den lassen wir zum Ausgleich früh sterben. Aber dann hört das Glück, dass den Glückspilz jedes Wochenende seine Schwiegermutter überfällt, und das ist ja auch wie ein früher Tod. Schon haben wir eine Win-win-Situation, eine Er-win-Situation.

Manchmal kann ich es schon nicht mehr hören, wenn alle behaupten: „In Paderborn hat sich vieles in den letzten Jahren zum Guten entwickelt." Das stimmt, aber muss man nicht gleich erwidern: „Jetzt sitzt aber auch bei uns die AfD im Rathaus."

Lasst uns bloß nicht den Eindruck erwecken, wir wüssten wie das Leben tickt. Die erste Todsünde ist der Hochmut und die zweite die Habgier. Das Glück ist schlicht. Es hat mit Müh’ und Not den Hauptschulabschluss geschafft und übersieht oft den, der es verdient hat. Unser ausgleichendes Wesen macht vieles erträglich und ist überall einsetzbar.

Da haben wir sie wieder

Wenn man in diesen Tagen einem Vertreter der katholischen Kirche vorhält, dass nur noch wenige Männer Priester werden wollen, kann dieser erleichtert erwidern, das ist nicht schlimm, weil auch nicht mehr viele Gläubige in die Kirche kommen. Da haben wir sie wieder, die Win-win-Situation, die Er-win-Situation.

Ich denke oft an Mozart, der himmlische Melodien schreiben konnte, aber unter Koprolalie litt, also dem zwanghaften Gebrauch von Fäkalausdrücken. „Scheiße, ist das schön", rief er dann beim Komponieren aus. So ist Gott. Alle bleiben auf dem Boden. Nur warum der Paderborner Künstler Herman einen so vollkommenen Eindruck hinterlassen muss, verstand ich lange auch nicht. Er ist schön, originell, erfolgreich und liebenswert. Das erschien mir manchmal zu viel des Guten, aber dann erzählte er mir, dass er keinen Alkohol mag. So passt es wieder.